Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
wie ein großartiger Einfall. Auf einmal ist er da, und niemand weiß, wo er herkommt. Das ist ein Phänomen, das alle Künstler besitzen. Sie besitzen es allerdings in einer ausgesprochen kreativen Form. Sie haben eine andere Wahrnehmung als wir. Eine Art Überwahrnehmung .“
Ich nickte und ergänzte: „Wahrnehmungsgenies. Größenwahn.“
„Genau da kann es hinführen. Bei Chris passiert eine Art Kombination aus Überwahrnehmung, Größenwahn und Schizophrenie. Er ist im Grunde viel zu jung dafür.“
Ich freute mich über diese fruchtbare Konversation und sah Jenny begeistert an.
„Ich habe gelesen“, fuhr sie fort, „dass Chris, kurz bevor er aus dem Heim entlassen und in die Psychiatrie eingewiesen wurde, seinen Vater überdimensional auf Hunderten von Einzelbildern in der Turnhalle dargestellt hat.“
„Stimmt“, bestätigte ich.
„Damit hat er ihn offensichtlich absolut präsent für sich gemacht. Als würde er schreien: Seht her! Das ist mein Vater. – Er ist , nicht, er war . Jetzt kommt Chris hier zu dir, und du ersetzt ihm sozusagen den Vater. Er will doch nur beschützt werden. Von einem Vater. Natürlich ist seine geistige Erkrankung vorhanden. Er nimmt ja keine gesunden Prozesse wahr. Und du beschützt ihn ja auch. Jetzt wird er aber von dir weggeholt und hat plötzlich keinen Vater mehr. Er ist alleine und weiß nicht, wie er wieder an einen Vater kommen soll. Chris ist besessen.“
Besessen, dachte ich. Chris ist von seinem eigenen Vater besessen.
Ich sah wieder auf die Fotos an der Tafel, und mir kam die Vorstellung einer Wanderung in den Kopf. Ich vervollständigte meine Gedanken laut: „Ich bin ja von Mr. Mintz entlassen worden und war plötzlich weg. Ich habe mich von Chris nicht verabschiedet, konnte es nicht übers Herz bringen. Da packte er dieses überdimensionale Bild von seinem Vater aus, als hätte er es als eine Art Reserve vorbereitet. Für den Fall, dass er mal verlassen werden würde. Der Fall trat jetzt ein, und er machte ganz schnell einen neuen Vater präsent. Für sich, vor allem. Dann ist er hierhergekommen und hatte mich wieder. Aber auch hier musste ich mich wieder von ihm verabschieden. Und gestern ist sein Vater plötzlich auf seine Haut gewandert. Chris hat ja keine Leinwände oder Blätter mehr. Also hat er die Haut genutzt, die fast empfindungslos ist. Die prügelt er gelb, grün und blau und schafft sich seinen Vater auf seinem eigenen Leib. Als nächstes wird sein Vater in ihn hinein wandern. Klare Schizophrenie. Endstation. Chris hört seinen Vater in sich mit ihm sprechen. Wie auch immer. Sein Vater beherrscht ihn. Er wird sich selbst nie mehr die Schuld an irgendwelchen Geschehnissen geben.“
„Genau“, sagte Jenny. „Elvis lebt … in mir. Chris hat sich gestern praktisch nur von dir verabschiedet. Er durfte dich nicht mehr Bob oder Dad nennen. Dr. Koman ist ein Freund, den er in Frieden gehen lässt. Er muss Tage zuvor mit dieser Selbstprügel begonnen haben. Die Blessuren beginnen, sich in voller Pracht zu zeigen.“
„Deswegen auch die Inszenierung mit dem Selbstmord. Es war die einzige Möglichkeit für ihn, sich von mir zu verabschieden. Deswegen sah Chris auch so zufrieden aus, als ich das Zimmer verließ. Es war ein glücklicher Abschied für ihn, denn er wusste, dass sein richtiger Vater bereits auf ihn wartet. So oder so. Hätte er seinen Selbstmordversuch umgesetzt, wäre er ihm in einer anderen Dimension begegnet. Er wäre ihm so oder so begegnet. Deswegen das tiefe Glück in ihm. Er hatte nichts zu verlieren. Aber wieso hat Chris behauptet, dass ihm ein anderer die Flecken beigebracht hat?“
„Denk doch mal nach. Es ist ganz einfach. Denk mal an Eingebungen und Botschafter.“
Ja klar! Ich nickte. „Der Schizophrene glaubt, von einer zweiten Person umgeben zu sein. Die befiehlt, die bestimmt. Alle Handlungen.“
Hatte Chris' Vater nicht ständig mit einem Loch geredet? Sein zweites Ich. Sein böses Ich.
Ich schwieg. Dann kam endlich meine Eingebung: „Alles, was Chris getan hat oder tut, ist er nicht selbst. Er hat für alles eine Erklärung, weil es ihn selbst in seiner Fantasie gar nicht gibt. Eine Matrix praktisch.“
„Wie eine Matrix“, bestätigte Jenny. „Dr. Brisco hat ihn nicht angerührt. Niemand hat ihn hier angerührt. Er hat aus seiner Sicht nicht einmal Henry angerührt. Das waren seine Botschafter, die Henry ein besseres Leben auf dieser Station verschaffen wollten. Henry, eine weiterer Schizophrene. Der versteht die
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