Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
plötzlich das Gefühl, mit ihm als Kollege an einem schwierigen Fall zu arbeiten. Dementsprechend veränderte sich mein Selbstbewusstsein.
„Sie haben Ihr Bestes gegeben“, sagte Brisco.
Also doch die Kündigung. Weshalb sollte er auch alles lang erklären. Es reichte, dass er mir die Tatsachen auf den Tisch legte.
„Ich wollte sagen, Sie haben das Allerbeste gegeben, was man geben konnte, Bob.“
Wie bitte? Kollege!
„Sie haben alle Methoden an ihm ausprobiert, die man in Betracht ziehen konnte, um eine klare Diagnose zu bekommen.“
Ich wuchs. Ich lächelte. Ich trank Kaffee mit meinen Chef!
„Ein Ausschlussverfahren“, log ich. Wer gab schon gerne seine Unfähigkeit zu?
„So könnte man das sehen.“
Ruhe. Kaffee. Dann:
„Sie sind am Ende Ihrer Weisheit“, sagte Brisco.
Kündigung?
„Das sind wir alle manchmal“, sagte ich, um die Situation halbwegs zu retten.
„In der Tat. Das sind wir. Chris Gelton ist ein Ausnahmefall, an dem wir kein Maß nehmen können. Dem wir aber auch kein Maß zugrunde legen können. Es gibt bisher keine, auch nur annähernde Diagnose eines solchen Falls. Wir haben nichts gefunden, an dem wir uns orientieren können.“
Stille. Wieder Kaffee. Er war nicht mehr so heiß. Ich nickte. Sollte ich meinem Chef erzählen, wie fertig ich mit der Welt war? Da erinnerte ich mich an Jennys Worte: Warte erst mal, was er zu sagen hat.
„Bob“, sagte Dr. Brisco, „Sie haben uns – der ganzen Klinik hier – mit Ihrem Methoden den Hals gerettet.“
„Wie bitte, Sir?“, fragte ich verdutzt. Wovon sprach Brisco? Hatte ich etwa noch nicht genug angerichtet?
„Auf Grund aller Unterlagen und Ihrer Verlaufsdokumentation aus dem Heim, sowie die hier von Ihnen angewandten Methoden, ist die Anklage gegen uns von den Eltern durch Mr. Kalinski vom Gericht schon in erster Instanz abgewiesen worden. Man kann uns nichts vorwerfen. Wir konnten unmöglich mit diesen Vorgängen rechnen.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen! Er knallte so laut zu Boden, dass ich fast die Tasse fallen ließ. Ich war wie taub und sagte: „Das müssen wir unbedingt Dr. Pilburg mitteilen.“
Brisco sah zu Boden. Was stimmte nicht an meinem Vorschlag?
„Dr. Pilburg hat sich gestern vor einen Zug geschmissen.“
Ich erstarrte, hielt die Tasse, die ich eben so triumphierend zum Mund geführt hatte, wie gelähmt in der Hand. Ich hatte keinen Durst mehr und sagte nur noch: „Gott!!“
„Er war dem Druck der Situation nicht mehr gewachsen. Deshalb habe ich ihn vorerst heim geschickt. Ich wollte nur, dass er erst mal zu Hause abwartet, wie sich die Dinge entwickeln würden. Heute habe ich ein gutes Ergebnis für ihn. Dabei haben wir ihn gestern Abend schon verloren.“
Mir stiegen Tränen in die Augen. Chris hatte sein zweites Opfer eingefordert. Ich sagte: „Ich sollte zuerst mit zum Camp fahren. Aber ich habe abgelehnt. Reiner Egoismus. Ich wollte Chris nur mal für ein paar Tage aus den Füßen haben. Da ist Dr. Pilburg für mich eingesprungen, obwohl ich viel mehr Erfahrung mit Chris habe. Ich hätte die Situation vielleicht erwartet. Ich war mit seinen skurrilen Ideen vertraut. Ich ...“
„Bob, hören Sie auf! Er hätte sich was anderes einfallen lassen, um den Camp-Ausflug zu canceln. Sie haben hier eine wichtige Aufgabe erledigt. Sie haben hier die Lebensgeschichte von Chris in dieser Zeit gelesen, sie anschließend ausgewertet und eine vorläufige Diagnose gestellt. Das war großartige Arbeit. Chris hätte von vornherein gar nicht mitfahren dürfen.“
Ich stellte meinen Kaffee ab. Sollte ich ihm jetzt von Chris' Absichten, die Geburt seines Vaters vorzubereiten, berichten? Ich ließ es. Pilburg war von uns gegangen, da konnte ich nicht von der Geburt eines neuen Massenmörders sprechen. Also fragte ich: „Und nun, Sir?“
Brisco trank seinen Kaffee aus und sagte: „Ich bin auch nur ein Mensch. Ich muss nachdenken. Ich muss mich zunächst um Mrs. Pilburg kümmern und dann die Geschehnisse der letzten vier Tage verarbeiten und ...“ Er atmete lang aus. „... dann möchte ich mich ganz intensiv mit Ihnen zusammen um Chris kümmern.“
„Mit Jenny Keller aber“, warf ich ein. „Das ist seine Kunstlehrerin. Sie hat in den letzten Tagen eine neue Theorie entwickelt. Und die sollten Sie sich wirklich anhören. Eigentlich schon bald. Eigentlich schon heute. Sie sollten ...“
„Bob, das ist Zuviel für heute.“
„Aber dann werden Sie ein Phänomen verpassen, denn es wird in genau drei Tagen vorbei sein.“
Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher