Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
ich in Carbondale und sah nach zwei Jahren erstmals meine Heimatstadt wieder. Ich sah die Stadt, umgeben von Bergen, die wir im Winter mit Skiern bezwungen hatten. Es ist eine wunderbare Stadt.
Mein Elternhaus lag am Stadtrand. Als Kind hat man den Eindruck, es würde sich nie etwas verändern. Alles sah wie immer aus: die Anordnung der Pflanzen vor dem Haus, die Gardinen, der Wagen auf dem Hof. Ich war zu Hause.
Vater stand schon in der Tür, als ich auf den Hof fuhr. Wir sahen uns nach zwei Jahren erstmals wieder. Er kam mir etwas gebeugt vor, aber sein Gesicht strahlte vor Lebensfreude. Er hatte drei stattliche Jungen mit meiner Mutter großgezogen. Wir sind alle was geworden. David ist Architekt und Kevin Physiotherapeut. Ideal in einem Ort mit Skifahrern.
Ich habe meine Mutter einmal gefragt, wie sie mit Vater die ganzen Studiengebühren finanziert habe. Sie sagte mir, wir würden dafür später leider kein Haus erben. Sie hatten also eine Hypothek darauf aufgenommen. Da es aus solidem Stein erbaut war, verlor es nicht so schnell seinen Wert. Wenn Vater einmal sterben würde, müssten wir es verkaufen, um die Lasten abzulösen.
Mein Vater empfing mich mit offenen Armen und drückte seinen alten Leib ganz fest gegen meinen. Seine gichtgeformten Hände pressten sich in meinen Rücken. Ich empfand eine tiefe Liebe zu ihm. Ganz tiefe. Hatte ich ihm das jemals gesagt?
Ich tat es jetzt. Ich dachte an Chris und sagte: „Ich liebe dich, Dad.“
„Ich dich auch, Junge“, entgegnete mein Vater, mit Tränen in den Augen.
Für einen kurzen Moment verstand ich Chris' Verlangen nach einem Vater, den er anfassen konnte, der präsent war. Wie tief musste sein Schmerz sein, seinen Vater nie kennengelernt zu haben. (Er hatte nicht einmal eine richtige Mutter gehabt.) Kein Wunder, dass er sich eine Figur der Reinheit bastelte, die seine Seele heilen sollte.
Ich hatte eine tolle Mutter gehabt und hatte derzeit immer noch einen tollen Vater. Ich kannte dieses Verlangen nicht.
Mein Vater hatte Schokoladenkuchen gebacken. Extra für mich. Und abends wollte er ein Barbecue mit Kevin und David geben. Sofern ich einverstanden war.
Das war ich, denn ich freute mich, auch meine Brüder wiederzusehen. Meine Familie war heil. Hier durfte ich sein. Hier fand ich Ruhe.
Ich dachte kurz an Jenny, dass ich sie hätte mitbringen sollen. Sie hätte so gut in diese Idylle gepasst. Aber es wäre vielleicht etwas früh gewesen.
Vater sah mich an. Ich spürte seinen Stolz. Er fragte: „Wie gefällt dir die Arbeit?“
„Gut“, sagte ich, was man eben als Sohn sagt, und aß dabei den leckeren Kuchen. Der war so köstlich. Wann hatte ich den letzten selbst gebackenen Kuchen gegessen? Meine ganze Kindheit steckte darin. Wer kennt das nicht: draußen auf dem Hof herum jagen, dann schnell mal rein und ein Stück Kuchen zwischen die Zähne schieben, um wieder Kraft für die nächste Jagd draußen zu haben.
Gott, was fühlte ich mich wohl!
„Willst du über die Arbeit reden?“, fragte mich mein Vater.
Ich überlegte. Wollte ich Abstand oder meine Probleme mit ihm besprechen? Vielleicht hatte er einen guten Tipp. Schließlich wollte Dr. Brisco mit mir zusammen eine Therapie für Chris ausarbeiten. Aber ich sagte: „Dazu würde das Wochenende nicht ausreichen.“
Mein Vater nickte. „Was hälst du davon, wenn wir uns genau zwei Stunden in den Wintergarten setzen und dann einen Wecker klingeln lassen. Dann ist Schluss.“
Das war eine gute Idee. Und es vertrieb uns die Zeit bis zum Abend.
Mein Vater stellte in der Tat einen alten Rappelwecker vor uns auf dem Tisch, allerdings mit dem Zifferblatt abgewandt. „Nur keinen Druck“, sagte er und setzte sich zu mir.
Ich erzählte ihm von meiner Arbeit in dem Heim, als ich Chris begleitet habe und musste jetzt im Nachhinein lachen, was dieser Knabe alles angestellt hatte. Es war beeindruckend und beängstigend zugleich. Damals war mir noch nicht klar, wie böse seine Absichten sein konnten. Es war mir nicht einmal jetzt klar, als ich es meinem Vater erzählte.
Als er von meiner Arbeit in der Psychiatrie hörte, legte sich seine Stirn in Falten. Das Heim schien eine lockere Sache gewesen zu sein, die Psychiatrie war eine verdammt ernste. Hier wurde nicht mehr gespaßt, hier kamen Geisteskrankheiten ans Tageslicht, die man nicht mehr unter Schabernack verbuchen konnte. Hier war Schluss mit lustig. Dementsprechend nahm mein Vater meine starke Belastung, der ich ausgesetzt war, wahr. Er spürte, wie sehr Chris
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