Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
sonderlich begeistert.
Ich sollte Jenny anrufen und ihr erklären, dass ich bei meinem Vater in Carbondale war. Damit sie nicht meinte, ich wäre nicht interessiert gewesen. Ich rief sie an.
Es meldete sich eine Männerstimme. Ich erschrak. Also doch ein Freund. Ich fragte nach ihr, fragte nicht, wer er sei. Er rief sie mit großer Vertrautheit ans Telefon. Mir erschien es ein Tick zuviel Vertrautheit und nahm ein großes Stück von meiner Vertrautheit weg.
„Hey Bob!“, sagte sie lachend, als hätte sie einen Schwips.
„Hey Jenny“, sagte ich kurz und nüchtern. „Danke für den Anruf. Ich war gestern nicht da. Habe meinen Vater übers Wochenende besucht.“
Mehr wollte ich nicht erklären.
„Kein Problem“, sagte sie, immer noch lachend. „Ben ist mitgekommen.“
Aha, Ben. Ben war jetzt immer noch da. Ben heißt also ihr Freund.
„Prima“, sagte ich. „Dann sind die Karten wenigstens nicht verloren gegangen.“
„Genau“, antwortete sie und fragte: „Wie war's bei deinem Vater?“
Interessierte sie sich überhaupt für meine Familie? Ich fasste mich kurz: „Gut“, dachte aber, es geht sie nichts an. „Also dann“, sagte ich schnell, „bis Morgen“, und legte auf.
Das war's dann wohl. Jenny ging mir zu leichtfertig mit Jungs um. Wie sollte ich neben all ihren Bens bestehen? Wer weiß, vielleicht heißt die Puppe in ihrem Wagen auch Ben?
Ich packte meine Reisetasche aus und nahm ein Bad. Wie nah lagen Freud und Leid beieinander?
*
Endlich kam die Sonne raus. Mit den ersten Sonnenstrahlen am Tag holten die Vögel ihre Köpfe aus dem Federkleid und sangen was das Zeug hielt. Es besserte meine Laune jedoch nicht auf. Ich war immer noch wütend auf Jenny. Wie konnte sie mich so abservieren? Es ist nie klug, sich in einen Kollegen zu verlieben. Leidet die Beziehung, leidet die Arbeit gleich mit.
Und doch musste ich mich aufraffen und zur Klinik fahren.
Bei Sonnenschein bekam der riesige Gebäudekomplex ein viel freundlicheres Aussehen. Stattlicher. Im Regen sah der Komplex zum Fürchten aus.
Brisco und Jenny waren noch nicht da. Nur zwei Ärzte von Station 1 und 3.
Ich begrüßte Annie, die immer zur gleichen Zeit Schicht haben musste, wie ich. Ich kannte nur sie. Josh schaute kurz ins Personalzimmer, als ich im letzten Stationsbericht las. Ich stellte meine übliche Frage an ihn: „Wie geht’s Chris?“
„Oh, brav wie ein Lamm.“
Meinte er brav oder still? Ich fragte näher nach:
„Still“, sagte Josh.
Ich hätte zu gerne Mäuschen in Chris' Zimmer gespielt. Bereitete er tatsächlich die Geburt seines Vaters in sich vor? Ich war so unglaublich neugierig auf seine Zeilen, die er täglich in sein Buch schrieb. Hoffentlich würde Jenny mir das Buch zum Lesen geben. Sie wollte es einem Projekt zugrunde legen. Da ihre Schüler überwiegend schizophren waren, würde sie mit dem Thema große Aufmerksamkeit erlangen. Fast jeder der Jungen hatte auf die eine oder andere Art eine Geburt in sich erlebt. Doch wie gerne hätte ich Chris in dieser Zeit mit seinen Bewegungen und seiner Mimik erlebt. Würde er alles an sich verändern? Was wäre, wenn ich Chris nach vielen Wochen wiedersehen und ihn nicht mehr erkennen würde? Würde es mir Angst machen oder Zuversicht schenken? Wenn eine Bombe tickt und man nicht weiß, wann sie explodiert, macht es wohl eher Angst.
Wie würde Jenny die Sache sehen? Mir kam es vor, als könne sie eine gute emotionale Abgrenzung zu Chris einhalten. Doch ich wusste auch, dass der Moment kommen würde, in dem Chris auch ihre Resistenz durchbrechen würde.
Als ich zu meinem Büro ging, sah ich kurz durch die Fenster zum Parkplatz hinaus. Jenny war immer noch nicht da. Dafür aber Dr. Brisco.
In meinem Büro stapelten sich Unterlagen. Was war hier am Wochenende los gewesen? Ich erinnerte mich, dass es Monatsende war. Da mussten alle Berichte unterzeichnet in die Chefabteilung wandern. Eine Heidenarbeit. Jeder Bericht bekam noch einen Abschlussbericht. Es machte mich wahnsinnig.
Als letzte Unterlage lag die Übergabe von Chris von Station 1 zu Station 3. Ich hatte den Abschluss offen gelassen und dokumentierte nur kurz: Medikation schlägt an, Patient ausgeglichen, keine Vorkommnisse. Weitere Beobachtungen auf Station 3. Übergabe erfolgte am 24. Juni 2009.
Damit unterzeichnete ich die Trennung von Chris und mir.
Nun war ich auf Jennys und Joshs Informationen angewiesen, wenn ich mich für eine Studie über Chris entscheiden würde.
Dabei kam mir in den Sinn, dass es keine
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