Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
mir ans Herz gewachsen war. Aber auch wie sehr ich mich gegen jede Zuversicht mittlerweile wehrte.
Zum Schluss meiner Berichterstattung fragte ich meinen Vater, der Zeit seines Lebens immer weise Ratschläge für mich parat hatte: „Was denkst du über Chris?“
Mein Vater ließ sich Zeit mit der Antwort. Er sah durch die großen Fenster des Wintergartens und antwortete schließlich: „Er wird dich zugrunde richten.“
Ich schluckte und fragte: „Sollte ich die Stelle wechseln?“
„Er wird dich nicht loslassen. Du wirst jeden Tag an ihn denken.“
„Was würdest du tun?“
„Ich würde mir Verstärkung holen, den Jungen zu meiner Studie machen und versuchen, mich aus jeder emotionalen Verbindung zu lösen. Ihn nur noch als Projekt zu betrachten.“
Ich dachte nach. Chris als Studie, als Projekt? Abstand und Verbindung zugleich. Ich würde mir erlauben, an ihn zu denken, ohne mich zu belasten. Spiel und Ernst miteinander verbinden. Hass und Liebe. Konnte ich das?
„Kann ich das?“, fragte ich meinen Vater.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Du bist zu jung.“
Ich verstand: jung und neugierig. Dr. Brisco war älter und gesättigt. Sollte er wirklich der beste Mann an meiner Seite sein? Ich fragte meinen Vater.
„Nimm Jenny mit auf deine Seite. Sie wird dich runterholen, wenn es zu doll wird“, gab er mir zur Antwort.
Das war auch genau meine Idee, die mir vorschwebte. Ich fragte: „Meinst du nicht, dass Chris noch lernen könnte, ein anständiger und guter Mensch zu sein?“
Mein Vater lächelte. „Wer will ihm denn das gute Leben vorleben? Du? Willst du ihn mit zu dir nach Hause nehmen?“
„Sicher nicht“, sagte ich lachend. Dabei war es gar nicht lustig.
„Eben“, sagte er. „In Chris' Gedankengänge stimmt was nicht. Das lässt sich auch durch Medikamente nicht beheben. Denk mal an seinen Vater. Er wollte so gut sein. Und zum Schluss glaubte er, die Welt hätte sich gegen ihn verschworen, und er tötete alle, die sich ihm in den Weg gestellt haben. Selbst seinen besten Freund wollte er töten. Besser gesagt, hinrichten.“
Hinrichten. Ich dachte an Chris' Hinrichtungsversuch. Mit zwölf Jahren eine solche Aktion durchzuführen zeugte wirklich von Geisteskrankheit. Das war keine reine Verhaltensstörung mehr.
„Warum gibt es keine Zwischenlösung?“, fragte ich meinen Vater.
„Weil Gott nicht für alles eine Lösung hat. Sei klug und betrachte Chris als ein Geschenk für deinen Beruf. Er wird dir unersetzliche Erfahrungen und neue Ansichten in der Forschung liefern. Mach ihn zu deiner Studie.“
Es waren erst zwei Stunden um, aber das Gespräch war zu Ende. Wir waren zu einer Lösung gekommen: Ich werde eine eigene Studie über Chris schreiben. Einzigartig und fundamental.
Gegen Abend kamen David und Kevin. David brachte seine Frau Melissa mit. Ich dachte wieder daran, wie schade es war, Jenny nicht mitgebracht zu haben.
Wir bauten den Grill auf und richteten ein kleines Buffet in der Küche her. Vater hatte heute Morgen Fleisch besorgt, meine Schwägerin Melissa hatte für Salate gesorgt.
Ich fühlte mich schuldig, weil ich nichts dabei hatte. So kümmerte ich mich ums Grillen und Aufräumen. Damit hatte ich allen einen größeren Gefallen getan, als etwas mitzubringen.
Als wir anschließend in gemütlicher Runde in der Küche saßen, besah ich mir meine Brüder genauer. David war bereits 34 Jahre und seit vier Jahren mit Melissa verheiratet. Sie waren noch kinderlos, genossen Beruf und Reisen. Das würde sich in nächster Zeit nicht ändern, nahm ich an. Melissas biologische Uhr tickte noch nicht.
David war für mich stets ein Vorbild gewesen. Er war der geborene Schüler und lückenlos durch die High Schools, College und Universität gewandert. Manchen ist der Erfolg in die Wiege gelegt. David konnte bisher große Erfolge als Architekt verzeichnen. Er arbeitete für drei große Unternehmen in Oklahoma, Montana und Maine, Dank dem Internet. Er konnte seine Arbeit größtenteils von zu Hause erledigen und musste nur hin und wieder verreisen.
Seine Frau Melissa leitete ein kleines Hotel in Carbondale. Ich mag sie. Sie ist fröhlich und unkompliziert. David dagegen ist still und sehr kompliziert.
Kevin hingegen ist wieder das Gegenteil von allen. Er war ein Chaot in der Schule und hatte doch seinen Weg gefunden. Einen wirklich tollen Weg sogar. Mit 29 Jahren leitete er eine physiotherapeutische Praxis in der Stadt und konnte sich vor Aufträgen nicht retten.
Kevin war in meiner Kindheit mein
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