Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Großmutter Elli an und zeigte auf dieses Ding. Da drin? Wie um Himmels Willen sollte das funktionieren?
Ich ging also die Treppen hinauf zu der Urne, nahm den Deckel ab und sah hinein. Es befand sich nur graues Pulver darin. Ich dachte, mit Wasser gemischt wäre es eine gute Farbe.
Großmutter Elli schrie: „Chrisiii!“, und ich ließ die Dose mit Deckel auf die Marmorstufen fallen. Das gab einen grausamen lauten Knall! Also schrie ich auch, grell und laut, rannte auf den Kaktus zu und begann, ihn zu schlagen. „Wo ist Großvater Ben?“, schrie ich dabei.
Brad gab mir eine gewaltige Ohrfeige. Dann noch eine und noch eine. Ich fiel zu Boden, der Kaktus schrie, meine Mutter heulte, und Brad schlug weiter und weiter.
War das eine Beisetzung?
Meine Traumata waren also immer noch da.
Bob versuchte, mir immer die Zusammenhänge des Lebens zu erklären, wenn ich ihm im Heim etwas von meinem Leben erzählte. Es seien andere als in Mathe, Deutsch oder Physik.
Bob fragte mich mal: „Haben sich deine Mutter und Brad mal mit dir zusammengesetzt und all deine Fragen beantwortet? So richtig lange geredet?“
„Wie?“, fragte ich.
„Hast du jemals Fragen an sie gestellt?“
„Welche?“, fragte ich.
„Zum Beispiel, warum alle immer so komisch auf dich reagieren.“
„Warum?“
„Weil du oft die Reaktionen nicht verstanden hast. Dir fehlten die Zusammenhänge.“
„Nein“, sagte ich, um das Gespräch abzubrechen.
Nach diesem Gespräch mit Bob kann ich mich erinnern, dass ich Brad einmal fragte: „Warum mag sie (meine Mutter) meine Bilder nicht?“
Brad antwortete: „Weil sie deine Bilder nicht versteht. Sie hat einen anderen Geschmack als du.“
Gut, das konnte ich akzeptieren. Aber gleich immer alles kaputtmachen?
Danach fragte ich meine Mutter: „Welche Bilder magst du denn?“ Damit wenigstens die ganz blieben.
Und sie sagte: „Wälder, Felder, Sonne, Wiesen.“
Ich setzte mich draußen mit meiner Staffelei hin und versuchte, meine Umgebung zu malen. Aber sie wollte nicht richtig aus mir herauskommen. Die Sonne war hinter einem düsteren Himmel, die Wälder brannten, die Wiesen waren vergilbt und die Felder verdorren.
Na gut, dachte ich, wenigstens sind alle Motive drauf und schenkte ihr das Bild zum Geburtstag.
Sie lief heulend aus dem Zimmer. Hatte sie sich so gefreut?
Zwei Wochen nach diesem Vorfall fand ich ein Foto in einer Schublade im Wohnzimmerschrank, wo ein Mann drauf war.
Ich hatte meinen Vater gefunden! Ich setzte mich in den Garten, stellte das Foto auf einen Gartenstuhl und sah es an. Ich sah ganz tief in seine Augen. Sie sahen aus wie meine. Was konnte ich sehen? Er lachte, doch sah ich Qual. Nur Qual.
Ich stellte das Bild bei Seite und setzte mich vor die Staffelei, die ich mit in den Garten genommen hatte. Wie malt man Qual?
Ich sah im Duden nach. Da stand: intensiver, körperlicher oder seelischer Schmerz. Große körperliche oder seelische Qualen leiden. Die Qualen der Hölle. Unter Qualen sterben. Leiden.
Meine Bilder wurden anders. Für mich war die Qual rot. Ich malte rote Bilder in sämtlichen Schattierungen. Es kam immer ein schreiendes Gesicht heraus.
Ich war wieder am Anfang.
Ich wollte mehr über meinen Vater erfahren. Wie war seine Kindheit gewesen? Sein Leben?
Wen sollte ich fragen? Meine Mutter? Sie wollte doch nur, dass sich nicht alles wiederholte.
Ich wusste zu dieser Zeit noch nicht, dass ein Buch über meinen Vater existierte. Ich wunderte mich nur ständig, warum mich viele Menschen dieser Gelton nannten. Wer war eigentlich dieser Gelton ?
Ach ich will noch kurz erzählen, was aus der Sache mit Kenny im Wald geworden ist.
Da kann ich alle beruhigen. Ich durfte wegen Bauchschmerzen eine Woche zu Hause bleiben. Am ersten Tag wurde ich sehr gehänselt und wartete geduldig, bis alles vorbei war. Freunde hatte ich sowieso nicht. Also hatte ich nichts zu verlieren.
Kenny und seine Freunde hatten diese Geschichte nicht den Lehrern erzählt. Das verstand sogar ich.
Die Lehrer mochten mich irgendwie wieder. Ich sah auch sehr nett aus mit meinen dunklen Haaren. Und doch musste meine Mutter sehr oft in die Schule. Es war doch alles in Ordnung. Ich fragte niemanden etwas, malte gute Bilder und machte meine Aufgaben sogar mit Sternchen.
Meine Schrift war so sauber, das glaubt mir keiner. Ungelogen.
Mit der Zeit hatte ich eine Kunstschrift entwickelt, die alle Lehrer beeindruckte. Ich schrieb mit echter Tusche. Brad hatte mir einen Tuschekasten geschenkt. Ich war so aus dem Häuschen
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