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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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nächsten Tag musste ich zur Krankengymnastik. Das tat höllisch weh. Aber der Therapeut sagte mir, dass ich bald wieder alleine auf Toilette dürfe. Das gab mir Kraft, all meine Übungen besonders gut zu machen.
Der Therapeut hieß Marc und war sehr lustig. Ich fragte ihn, ob ich ihm ein Bild malen dürfe.
Das sei eine Ehre für ihn, sagte er.
Es hatte sich im Krankenhaus sicher schon herumgesprochen, dass ich ein guter Maler bin. Leider brachte mir niemand meine Staffelei und Ölfarben. Marc gab mir einen Kuli und ein Blatt. Er sagte: „Zeichne mich.“
Ich malte ihn, so gut es eben ging. Er sah sich das Bild an und wurde ernst. Na, ja, der Mund sah wohl etwas gequält aus.
Marc nahm das Bild an sich und sagte nicht einmal danke . Ich vermute, dass es ihn so beeindruckt hat.
    Jim, Patricks Vater, kam wieder. Er sagte: „Morgen ist die Beisetzung deiner Mutter. Gleich hier in der Kirche neben dem Krankenhaus. Bist du bereit?“
„Klar“, sagte ich. Hauptsache ich fand sie, meine Mutter, und konnte mich verabschieden.
Patricks Vater holte mich um neun Uhr ab. Meine Schulter tat immer noch sehr weh, wenn ich aufrecht ging.
In der Kirche sah ich Brad. Er saß zwischen zwei Polizisten. Sie hatten ihm Handschellen angelegt. Auf der anderen Seite – Bob sagte, das nennt man ein Schiff – also auf dem anderen Schiff saß der Kaktus und noch viele Ableger davon. 
Patricks Vater brachte mich nach vorne. Die Bank war ganz frei. Alle stierten mich an. Der Kaktus hielt sich die Hand vor den Mund, als er mich sah. Sie brauchte keine Angst zu haben. Ich würde schon nicht schreien und schlagen. Die Zeit war längst vorbei.
Als ich mich mit Patricks Vater hinsetzte, suchte ich meine Mutter, aber ich konnte sie nicht finden. Ging das Spiel schon wieder los?
Diesmal hatte ich Hilfe dabei und fragte: „Wo ist sie?“
Er zeigte nach vorne auf eine Keksdose mit Deckel.
Ich sah hin. „Wo?“
„In der Urne“, sagte er.
Aha, in der Kirche heißt eine Keksdose also Urne.
Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Stimmt nicht. Großvater war auch nicht drin. Habe selber reingesehen.“ Ich kannte das ja schon.
„Doch“, sagte Patricks Vater. „Sie ist eingeäschert worden.“
Nun fragte ich doch: „Was ist einäschern ?“
Zum ersten Mal fragte ich nach den Dingen des Lebens.
„Der tote Körper wird in eine Holzkiste gelegt und dann in einem Spezialofen verbrannt, und die Asche kommt dann in so eine Urne. Die wird dann in der Kirche vom Pfarrer geweiht und in der Erde vergraben. Manche Familien bekommen die Urne auch mit heim, aber deine Mutter bekommt ein richtiges Urnengrab. Damit du sie immer besuchen kannst.“
Jetzt verstand ich.
Ich stellte mir vor, wie sich der Körper meiner Mutter im Feuer gekrümmt haben musste. Das habe ich mal mit Brad abends im Fernsehen gesehen. Es amüsierte mich.
„Wo ist das Urnengrab von meinem Vater?“, fragte ich, doch Patricks Vater legte den Finger vor den Mund und sagte: „Leise.“
Der Pfarrer kam, und alles passierte genauso, wie er es vorausgesagt hatte.
    Im Krankenhaus saß plötzlich ein fremder Mann in meinem Zimmer, als ich von der Beisetzung zurückkam. Ich erschrak, denn der Mann hatte zerzaustes Haar und ungebügelte Hosen an.
Als ich mit Patricks Vater wieder in mein Zimmer kam, erhob sich der Mann. Man half mir aus der Jacke und brachte mich zum Bett.
„Ich bin einen Tag früher als abgesprochen“, sagte der Mann.
„Das ist heute ein denkbar ungünstiger Moment“, sagte Patricks Vater schroff. Er kannte den Mann wohl.
„Christophers Mutter ist gerade beigesetzt worden.“
Der fremde Mann hielt mir die Hand hin. „Herzliches Beileid“, sagte er, und ich sah seine Hand an.
„Nimm sie und sag danke“, sagte Patricks Vater. Ich tat es. Was auch immer das zu bedeuten hatte.
„Es ist besser, Sie kommen morgen wieder“, sagte Patricks Vater. „Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.“
Worüber?, fragte ich mich. Worüber gesprochen?
Der Mann nickte und verschwand.
„Ich muss mit dir reden“, sagte Patricks Vater und setzte sich wieder weit weg von meinem Bett. 
„Das war George Mintz. Er ist Leiter eines Jungenheims.“
Diese Worte genügten, um eine große Not in mir auszulösen.
Er sprach weiter: „Da du keinen Erziehungsberechtigten mehr hast, keine Eltern, hat das Vormundschaftsgericht einen neuen Erziehungsberechtigten für dich bestimmt.“
Neue Eltern? War das mein neuer Vater? Das hörte sich gar nicht gut für mich an.
„Mr. Mintz leitet ein Heim mit

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