Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
Vom Netzwerk:
fahre gerade mit dir dort hin.“
Das durfte doch nicht wahr sein! Ich fuhr gerade zu meinem Vater!
„Er liegt in Kansas City auf dem Edwardsville Cemetery. Er hat kein Urnengrab. Er wurde in einem Sarg beerdigt. Das nennt man eine Erdbestattung“, informierte mich Mr. Mintz.
„Nicht eingeäschert?“, fragte ich sicherheitshalber nach.
„Nein, nicht eingeäschert. Sein ganzer Körper befindet sich im Sarg.“
Sein ganzer Körper! Mein Vater war noch ganz! Er war nicht verbrannt!
Eine starke Unruhe überkam mich. Womit hatte ich das verdient?
Ich sah das Schild des Friedhofs. Wir stiegen aus und betraten den Friedhof. Ich konnte wieder etwas besser geradegehen und fühlte mich zwischen all den Gräbern sofort wohl.
Wir gingen an vielen weißen Kreuzen vorbei, bis Mr. Mintz stehen blieb und auf ein Kreuz zeigte, das viele Meter entfernt stand.
Er sagte: „Dort liegt dein Vater. Ich möchte, dass du ganz alleine hingehst und solange bleibst, wie du willst. Ich werde dort drüben“, und er zeigte auf eine Bank, weit entfernt, „auf dich warten.“ Dann ging er zu der Bank.
Ich stand wie angewurzelt da und konnte mich nicht rühren.
Ich war ganz alleine und schloss die Augen. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zu dem Grab meines Vaters. Ich blieb vor dem weißen Kreuz stehen. Jemand hatte einen frischen Strauß dort niedergelegt. Mitten im Kreuz befand sich ein kleines Foto von meinem Vater. Es war das gleiche Bild wie meines damals in meinem Zimmer in Topeka! Meine Mutter hatte es also gar nicht wirklich weggenommen. Sie hatte es hierher gebracht, damit ich eines Tages das Grab meines Vaters finden würde! Sie war also gar nicht so schlecht gewesen.
Ich trat näher. Mein Herz raste, als wenn es aus meinem Körper springen würde. Ich beugte mich zu dem Bild hinunter und sah ihm in die Augen. Es war, als stünde er direkt vor mir und würde mich anlächeln. Ich sagte: „Hallo, Vater.“ Er lächelte. Hallo Christopher!
Dann wurden meine Knie weich, und ich sackte zusammen. Hatte keine Kraft mehr. Ich fiel auf die Blumen und heulte einfach drauflos. Ich streckte Arme und Beine aus und legte mich direkt über ihn.
Irgendwann kam Mr. Mintz und sagte: „Christopher, es wird dunkel.“
Ich sah auf. Es war kalt geworden. Ich nickte.
Er sagte: „Ich gehe schon voraus, okay?“
Ich nickte wieder.
Als er weg war, kratzte ich das Bild vom Kreuz – es war meins! – und lief Mr. Mintz hinterher.
Auf der Fahrt ins Heim sagte ich zu Mr. Mintz: „Ich will werden wie mein Vater.“
Mr. Mintz' Blick verdunkelte sich, und zum ersten Mal wurde er unfreundlich. „Nein, das wirst du nicht!“, sagte er und redete nicht mehr mit mir.
War das nicht der Wunsch eines jeden Vaters?
Ja, ja, ich weiß, es fehlte mir an Aufklärung.
    Wir hielten vor einem großen Haus. Einem ganz großen. Es hatte zwei riesige Türen mit einer gewaltigen Treppe davor.
„Da sind wir“, sagte Mr. Mintz.
Er zeigte auf das Schild an der Seite der Treppe. Dort stand:   Hope – Heim für schwer erziehbare Jungen.  Schwer erziehbar? Wann war ich je schwer erziehbar gewesen? Ich bin niemandem zur Last gefallen und habe mich in Grund und Boden prügeln lassen. Ich habe keine Fragen mehr gestellt und seit dem letzten Vorfall nicht mehr onaniert. Mein steifer Penis am Morgen war nicht von mir! Vielleicht war es doch Brad gewesen. Ich habe Brad nie angegriffen (na ja, einmal), ich habe nie meine Mutter beschimpft. Wo war ich schwer erziehbar, bitte schön? Gott sei Dank hörte Brads Terror hier auf.
Es war schon sehr spät am Abend. Es war niemand mehr zu sehen. Mr. Mintz und ich stellten meine Kartons ab, und er ließ mich die große Halle ansehen. Alles war so gewaltig!
„Dieses Heim ist schon sehr alt“, hörte ich Mr. Mintz sagen.
„Über 70 Jahre. Damals gab es noch Gitter vor den Fenstern. Die sind aber schon lange weg. Das Heim wurde 1995 neu renoviert und befindet sich in einem guten Zustand.“
Er redete mit mir wie mit einem Erwachsenen. Das gefiel mir.
„Wenn du fertig geschaut hast, sag Bescheid. Dann zeig ich dir dein Zimmer.“
Er ging in eine Ecke der Halle und zapfte einen Becher Wasser aus einer riesen Wasserflasche. Ich kannte diese Dinger. Sie standen überall in den Geschäften herum.
Ich wollte auch so einen Becher, aber Mr. Mintz drohte schnalzend mit dem Finger: „Heute Abend gibt's für dich nichts mehr. Bei uns wird nachts nicht auf die Toilette gegangen.“
Ich sah ihn an und dachte daran, dass ich oft nachts um

Weitere Kostenlose Bücher