Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Jungen, die alle keinen Erziehungsberechtigten mehr haben.“
Das hörte sich noch schlimmer an. Heim! Irgendwo hatte ich davon schon mal gehört.
Richtig! Brad hatte mich mal angeschrien: „Wir stecken dich in ein Heim! Da wird dir Sehen und Hören vergehen! Da gibt's Prügel von morgens bis abends! Und nur Wasser und Brot!“
Ich zitterte überall und brach zusammen.
Als ich wieder zu mir kam, war Patricks Vater weg.
Marc, mein Krankentherapeut, saß bei mir am Bett und sagte, dass Jim heute Abend noch mal wiederkommen würde.
Aber er kam nicht. Ich weinte.
Warum konnte ich nicht bei Jim, Linda und Patrick wohnen? Dann hätte ich endlich eine richtige Familie. Und einen Bruder.
Bob sagte, dass viele Erwachsene Angst vor zu viel Verantwortung haben. Jim war überfordert. Was auch immer das heißen mag. Ich sah Jim, Patrick und Linda nie wieder.
Mr. Mintz kam am nächsten Morgen wieder. Ich sah mir direkt seine Hände an, ob sie aussahen, wie die von Brad. Ich wollte mich nie wieder in Grund und Boden prügeln lassen. Nie wieder.
„Hi, Christopher“, sagte Mr. Mintz sehr freundlich.
Ich sagte nichts. Ich stellte mir vor, wie ich nun mein Hören und Sehen verlieren würde. Na, ja, das eine Auge war ja schon erledigt. Aber an meine Ohren wollte ich nun wirklich niemanden lassen. Dann könnte ich nie wieder diese schöne Klaviermusik hören. Ich war auf der Hut!
Mr. Mintz hatte Fotos dabei. Sie zeigten das Heim, die Sporthalle, die Betreuer, die Lehrer, die Köche, den Arzt und den Heimpsychologen. Das machte mich dann doch neugierig. In dem Heim arbeitete ein Psychologe!
Ich fragte sofort: „Darf ich dem Psychologen meine Bilder zeigen?“
„Aber unbedingt“, sagte Mr. Mintz.
Ich verlor meinen Schrecken vor dem Heim. Wenn dort ein Kunstkenner arbeitete, dann konnte es nicht so schlimm sein.
Ich erkundigte mich vorsichtig nach dem Essen: „Gibt es auch Wasser und Brot?“
Mr. Mintz musste lachen. „Wer hat dir denn das erzählt?“
Gab es etwa nichts? „Brad“, sagte ich.
„Brad“, wiederholte Mr. Mintz und nickte. Er kannte wohl Brad. Hatte Brad ihm auch das Prügeln beigebracht? Er war der Einzige, den ich kannte, der so richtig prügeln konnte.
„Kennen Sie Brad?“, fragte ich vorsichtig.
Er nickte. „Ja, aus den Akten.“
Etwa Prügelakten?
Ich fragte vorsichtig: „Welche Akten?“
Vielleicht konnte ich herausfinden, wie Mr. Mintz prügelte.
„Die das Jugendamt mir gegeben hat. Das Jugendamt hat einen Bericht über dich geschrieben. Auch über Brad und deine Mutter.“
Das Jugendamt schrieb also auch Geschichten. Das fand ich klasse.
„Und?“, fragte ich.
„Du brauchst unbedingt einen Psychologen.“
Ja! Und nochmals, ja!
Ich hielt ihm die Hand hin und sagte: „Danke.“
Er nahm meine Hand an und sagte: „Gern geschehen.“
Die Akte hatte also nichts mit Prügel zu tun. Bei Mr. Mintz war ich mir nicht so sicher.
Drei Tage später wurde ich von Mr. Mintz abgeholt. Er hatte meine zwei Kartons hinten im Kombi. Das machte mich glücklich.
„Erzähl mir von dir“, sagte er während der Fahrt.
„Ich male und schreibe“, sagte ich ihm.
„Ich weiß“, sagte er. „Ich habe deine Bilder schon gesehen. Nur die Geschichten konnte ich noch nicht lesen.“
Das fand ich irgendwie sehr nett. Er wollte sich für die Geschichten wirklich Zeit nehmen. Die hatte er wohl im Moment nicht. Also erzählte ich ihm von meinen Blutgeschichten und, dass meine Deutschlehrerin auch schon eine gelesen hatte.
Mr. Mintz sah etwas blass aus. Er wechselte das Thema.
„Erzähl mir von der Schule. Wie hat es dir dort gefallen?“
Ich fragte: „ Welche Schule?“
Er schwieg. Dann fragte er: „Wie viele Schulen hast du denn besucht?“
„Zwei.“ Nein. „Drei.“ Oder „Zwei?“
„Wie alt bist du?“, fragte er.
„Ich glaube 12, Sir“, antwortete ich höflich.
„Wann hast du Geburtstag?“, fragte er weiter. Er war sehr interessiert an mir. Wegen der Biografie des Künstlers, dachte ich.
„Im Sommer, glaube ich“, antwortete ich wieder höflich.
„Welcher Tag und welchen Monat?“
Das wusste ich nicht mehr. Mein letzter Geburtstag wurde nicht mehr gefeiert. Da habe ich wohl das Datum vergessen. Ich zuckte also mit den Schultern.
„Wen magst du am liebsten?“, fragte Mr. Mintz.
„Meinen Vater“, sagte ich sofort. Da musste ich nicht nachdenken.
Mr. Mintz nickte. Er wusste wohl etwas von ihm. Also fragte ich: „Wissen Sie, wo das Urnengrab meines Vaters ist?“
„Ja, Christopher, das weiß ich. Ich
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