Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
Annahme funktionieren die Nachfragegleichungen der Ökonomen nicht. Begründet wird das zum einen damit, dass unsere Bedürfnisse völlig unbegrenzt sind. Zum anderen damit, dass die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, bei Weitem nicht ausreichen, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Es reicht nicht für alle.
Aber sehen wir uns mal um: Ein Supermarkt führt im Schnitt über 40 000 Einzelprodukte, ein Kaufhaus dreimal so viele. Die Regale in den Geschäften sind übervoll, und nur der »Sale« leert sie, damit die nächste Garnitur Platz hat. Wir leben, wie schon John Galbraith feststellte, in einer Überflussgesellschaft. 17 Haben wir wirklich einen Mangel an Arbeitskräften oder nicht doch eher das Problem, wie man die Arbeitslosen beschäftigt? 18 Auch die Produktionskapazitäten sind nicht knapp, sondern im Schnitt nur zu 80 Prozent ausgelastet. Es gibt wohl nur wenige Unternehmen, die Aufträge ablehnen, weil sie keine Kapazitäten mehr haben. Preise drücken nicht immer die Knappheit von Gütern aus, oft sind sie strategisch gewählt. Viele Güter werden künstlich verknappt, um den Preis zu diktieren. Der Ölpreis ist ein Preisdiktat, kein Gleichgewichtspreis im »System der Freiheit«. Preispolitik ist eine zentrale Managementaufgabe, wofür es spezialisierte Unternehmensberatungen gibt, niemand überlässt sie dem freien Spiel der Kräfte. Die wenigsten Preise, denen wir in unserem Konsumentendasein begegnen, sind das automatische Ergebnis eines freien Spiels von Angebot und Nachfrage. 19
Genauso falsch ist die andere Seite der Annahme, dass unsere Bedürfnisse grenzenlos sind. Das wird besonders deutlich im Gesundheitsmarkt: Es gibt kein unendliches Bedürfnis der Menschen nach Zahnbehandlungen oder Herzschrittmachern. Wer auch bei Darmspiegelungen meint, hier würden die Menschen nach dem Prinzip »mehr ist besser als weniger« handeln, muss entweder Hypochonder sein oder Ökonom. Die wenigsten Menschen wollen ständig alles maximieren, die meisten sind mit einem bestimmten Optimum zufrieden und pflegen ihre privaten Bedürfnisse und Gewohnheiten. 20 Wären wir von unendlichen Wünschen getrieben, müsste uns eine gigantische Marketingmaschine nicht ständig neue einreden.
Säßen wir ohne den Immer-mehr-Motor noch auf den Bäumen?
Neuerdings soll die Hirnforschung dazu herhalten, um den wissenschaftlichen Beweis zu führen, dass wir praktisch ununterbrochen nach neuen Reizen verlangen und »unendliche Bedürfnisse« deshalb unserer Natur entsprechen. »Bewiesen« wird das mit Hirnscans aus dem Magnetresonanztomographen, die das Feuern von Hirnarealen zeigen, wenn uns ein leckeres Steak oder eine attraktive Blondine vorgeführt wird. Seriöse Neuropsychologen geben freilich zu, dass die Lokalisation eines Vorgangs im Gehirn noch längst nicht erklärt, wie er funktioniert. Nach welchen Regeln das Gehirn Aktionen plant, wissen wir noch nicht einmal in Ansätzen. Das schreckt manche »Neuroökonomen« aber nicht von weitreichenden Behauptungen ab. Eine ist, dass unser Belohnungssystem, also das System, dass uns am Ende des Tages zur Brieftasche greifen lässt, besonders viel Dopamin (Glückshormone) freisetzt, wenn wir Neues wahrnehmen. »Ein neues Signal bedeutet immer Veränderung.« Daraus wird der Schluss gezogen, dass wir das Bestehende geringer schätzen als das Neue und angeblich ständig nach neuen und gesteigerten Reizen Ausschau halten. Ohne unser Belohnungssystem, heißt es in einem Bericht, lebten wir immer noch auf den Bäume, und »der Marsflug wäre keine Überlegung für uns«. 21 Einige Absätze später wird erklärt, dass das Belohnungssystem der Affen im Grunde nicht viel anders als unseres funktioniert. Da die Affen aber noch immer auf den Bäumen leben, könnte es sein, dass der Flug des Menschen zum Mond nichts mit dem neurologischen Belohnungssystem zu tun hat, sondern mit unserer Kultur. Das liegt auch nahe, denn die Amerikaner haben dasselbe angeborene Belohnungssystem wie die Nigerianer, die Brasilianer oder die Deutschen, und dennoch waren sie die bislang Einzigen auf dem Mond. Dasselbe menschliche Gehirn war im Mittelalter vergleichsweise faul und neuerungsfeindlich. Verhaltensökonomen behaupten, dass wir auch heute noch das sichere Bestehende dem unsicheren Neuen vorziehen. 22 Die Neuromarketing-Autoren neigen dazu, den Konsumenten des 21. Jahrhunderts mit dem »Naturzustand« gleichzusetzen. Das soll den Thesen universale Gültigkeit geben. Unendliche Bedürfnisse
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