Vier Äpfel
Kriegsfilme schaffen es hierher. Am Tag, als L. auszog, habe ich hier einen Film gekauft, in dem eine Frau immer wieder vergißt, wer der Mann ist, den sie tags zuvor kennengelernt hat, sie muß ihn, fast wie im richtigen Leben, jeden Tag neu kennenlernen. Kurz vor L.s Auszug waren wir beide noch einmal im Kino gewesen, und in einer Szene des Films, den wir uns ansahen, glaubte ich diesen meinen, damals noch unseren Supermarkt wiederzuerkennen. 24 Ich erkannte, ich war mir ganz sicher, die langen Tiefkühltruhen und das Kühlregal, in dem die Milch und die Naturjoghurts stehen, aber L., die sich schon nicht mehr in meine Richtung lehnte, sondern ganz aufrecht dasaß, war sich da nicht so sicher. Supermärkte, meinte sie, sähen doch alle gleich aus.
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Aus den unbehandelten Zitronen in meinem Wagen könnte ich mir, das hätte ich dann von Joseph Beuys geklaut, eine Stromquelle für einen Einkaufswagenantrieb bauen. Beuys steckte ein blankes Kupferkabel in eine Zitrone und brachte dadurch eine Glühbirne zum Leuchten, er nannte das Capri-Batterie. Hätte ich genügend Zitronen, könnte der Strom für einen kleinen Motor reichen. Es wäre also ein zitronengetriebener Einkaufswagen, ja, und äußerst bio – sofern die Zitronen nicht in beheizten Gewächshäusern reifen oder von sehr weit entfernt herangekarrt werden müßten.
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Wahrscheinlich ist heute doch kein besonderer Tag, denke ich, denn daß vier Supermarktäpfel zusammen genau tausend Gramm wiegen, kommt bestimmt gar nicht so selten vor. Äpfel werden sicher auf dieses Gewicht hin gezüchtet und nach der Ernte entsprechend sortiert, was, um keine Druckstellen zu verursachen, nicht auf Förderbändern, sondern schwimmend geschieht. In diesen Anlagen, ich habe so eine mal im Fernsehen gesehen, treiben sie auf kleinen Kanälen und bewegen sich mit der Strömung durch eine Art Apfel-Venedig, Exemplare, die sehr viel weniger oder mehr als zweihundertfünfzig Gramm wiegen, müssen abbiegen. Heute ist demnach ein ganz normaler Tag in meinem Leben, ich gehe durch einen Supermarkt mit vollen Regalen und Birnen in Dosen und Bananen, und die kurze Kette, mit der ich den Einkaufswagen später wieder an einen anderen kuppeln werde, klirrt, weil sie hin und her baumelt und manchmal gegen das Metallgeflecht des Korbes stößt.
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Ich rolle weiter, und die Äpfel rollen in der Tüte hin und her. Sie sehen aus, als ob ich sie eben erst vom Baum gepflückt hätte, ganz anders als der hell- oder giftgrüne Modeapfel vergangener Jahrzehnte, der in den Obst- und Gemüseabteilungen und an Marktständen mittlerweile viel seltener und weniger prominent plaziert zu finden ist. Ich meine den Apfel, der in gläsernen Obstschalen die Tische der Neubaueßzimmer dekorierte und in der Fernsehwerbung für Zahnpasta eine Rolle spielte. Lange Zeit dachte ich, er wäre in Wahrheit aus Kunststoff oder Wachs, denn er kam mir immer mehr wie die Idee eines Apfels vor – wie die Vorstellung, die ein Innenarchitekt von einem Apfel hat, der zu einer reinweißen Einrichtung passen soll. Wollte ich einen Apfel essen oder mit in die Schule nehmen, ging ich in den Keller und nahm mir einen von denen, die halbverschrumpelt auf den Regalbrettern lagen, oder pflückte mir zwei oder drei der kleinen, häufig verwurmten Äpfel, die an einem der Bäume im Garten hingen, wohingegen mit glitzerndem Zahnspangenlächeln in die Welt schauende, Oberteile von Esprit oder Benetton tragende blonde Neubaumädchen wie Susanne Bänder oder Kirsten Krupp, an deren Häusern ich vorbeikam, wenn ich Milch vom Bauernhof neben dem Nervenklinikparkplatz holen sollte, während der Pause in ihre Schulranzen griffen und hellgrüne Granny Smith hervorkramten. 25
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Als ich einmal in der Kantine eines Unternehmens aß, das großen Wert auf ökologisch korrekte Ernährung seiner Mitarbeiter legte, lag ein Apfel auf meinem Birkenholztablett, der, soweit nicht ungewöhnlich, einen kleinen Aufkleber trug. Da sich auf ihm nicht das Logo einer Fruchthandelsgesellschaft, sondern eine Internetadresse und eine Nummer befanden, wurde ich neugierig. Ich piddelte den Aufkleber von der Schale, klebte ihn auf die Manschette meines Hemds und erfuhr später, an meinem Arbeitsplatz, daß der Apfel, den ich zu diesem Zeitpunkt schon gegessen hatte, vor weniger als zwölf Tagen auf einer argentinischen Biokooperative gepflückt worden war. Das Führungstrio der Kooperative stellte sich mit kurzen Texten vor, und auf einem Gruppenphoto sah ich
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