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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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jedem Ausgang elektronische Schranken gegeben. Kleidung zu stehlen habe da schon mehr herausgefordert – eine Hose unter einer anderen Hose anlassen oder einen Rock unter einem längeren Rock, so sei sie zu ihren schönsten Stücken gekommen, in Umkleidekabinen gebe es keine Kameras. Ich hingegen war nie gut im Klauen. Ich könnte mir nicht einmal die Fleischwarentüte in den Hosenbund schieben, sie fiele mir sicher kurz vor oder hinter der Kasse heraus. Zwar überkommt mich manchmal die Versuchung, heimlich etwas einzustecken, aber da ich weiß, daß ich an geklauten Dingen wenig Freude habe, widerstehe ich ihr. Ich weiß es von der Platte,einer Single, die ich einmal in einem Kaufhaus habe mitgehen lassen, ich war zwölf oder dreizehn, und wahrscheinlich war es eine Art Mutprobe. Wir waren zu dritt unterwegs, zwei Freunde und ich, schauten die Schallplatten durch, alles Vinyl, und hingen eine halbe Stunde oder länger in der Musikabteilung herum. Als wir wieder draußen waren, überraschte ich die anderen mit der Single, die ich mir einfach unter den Arm geklemmt hatte. Zwischen kopierten Notenblättern, die ich dabei hatte, weil ich danach, das war mir peinlich, noch in die Musikschule mußte, war sie gar nicht aufgefallen. Das Lied
Tainted Love
von
Soft Cell
gefiel mir gut – erinnerte mich dann aber immer wieder daran, daß ich die Single gestohlen hatte. Das geht mir noch heute so, wenn ich es zufällig irgendwo höre, einmal war es auch hier, in diesem Supermarkt der Fall, ich stand gerade bei den Fleischwaren an. Später habe ich, wie um es wiedergutzumachen, fast alle Alben von Marc Almond gekauft. 21 L., der ich das einmal erzählte, fand die Geschichte harmlos, sie hatte ganz andere Dinge angestellt, allerdings verriet sie mir nicht alle. Geblieben war ihr die Gewohnheit, nach unabgeschlossenen Fahrrädern Ausschau zu halten, die, wenn sie denn eines entdeckt hatte, eine Weile zu beobachten und schließlich seelenruhig davonzuschieben, als ob sie es bloß zur Seite stellen wollte. Eines Tages, das hat sie oft angekündigt, wollte sie sich aus all diesen geklauten Rädern, meist waren es Damenräder, die unabgeschlossen an Laternenpfählen oder Hauswänden lehnten, ein oder zweineue zusammenbauen – wozu es jedoch nie kam. Sie stehen bestimmt immer noch unten im Haus, im Fahrradraum, in dem ich schon über ein Jahr nicht mehr gewesen bin. Vielleicht aber hat sie auch jemand geklaut.
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    Viel öfter als heute hingen in den Läden früher gewölbte Beobachtungsspiegel, in denen meist der halbe Raum, wenn auch verkleinert und verzerrt, zu sehen war. Sie hingen da, so mein Verdacht, weniger zur tatsächlichen Überwachung als zur Erzeugung eines Gefühls von Überwachung. Jede Bewegung, sollte man denken, könnte beobachtet werden.
    54
    Ob ich jemals zur Kasse finden werde, weiß ich nicht. Ich könnte immer wieder dieselbe Runde durch die drei, vier Gänge drehen – gegen den Uhrzeigersinn und immer wieder an den Fertignudelsoßen, dem Zucker und den Tütensuppen vorbei – und nie, Stunden, Tage, Jahre nicht, zur Kasse finden. Angst, mich zu verlaufen, habe ich keine, ich habe hier ja alles, alles ist da. Liefe ich mit einem undichten Farbeimer in der Hand herum, ich hätte meine eigene Spur schon oft gekreuzt, und von oben betrachtet wäre vielleicht zu erkennen, daß ich, ganz ohne es zu wollen, große Buchstaben auf den Supermarktboden getröpfelt hätte, die, zusammengesetzt, eine Botschaft ergäben, eine von denen, die L. nie lesen wird.
    55
    Schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Kühlregals, sehe ich einen Mann, der, obwohl er gar nicht alt, wahrscheinlich erst Ende Vierzig, ist, aussieht, als ob er bald sterben muß.
Bald
ist natürlich eine relative Zeitangabe, sterben müssen wir ja alle, nur gelingt es den meisten Menschen, diese Tatsache fast immer so zu überspielen, daß weder sie selbst noch alle anderen rings um sie herum an sie denken. Um so erschreckender, es plötzlich dann doch zu sehen: Dem Mann, der sich jetzt über das Speiseeis beugt, steht es auf die Stirn geschrieben, er hat bestimmt nur noch ein paar Tage, höchstens eine Woche zu leben – aber vielleicht wirkt er bloß ein wenig ungesund. Ich weiß noch, wie sehr mich als Kind die Erkenntnis, daß in allen Menschen ein Knochengerüst, ein Totengerippe steckt, in maßloses Erstaunen versetzte. Der Tod verbirgt sich also in uns allen, wußte ich von da an, es liegt nur ein wenig Fleisch darüber, beim einen mehr, beim

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