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Vier Äpfel

Vier Äpfel

Titel: Vier Äpfel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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ist, finde ich die Tube häufig unverschlossen, vielleicht aber lasse ich sie bloß deshalb offen, weil ich in mir das Echo ihrer Stimmehören will, die mich erst bittet, schließlich ermahnt, die Zahnpastatube zuzudrehen. Dreh doch die Zahnpastatube zu, hat sie immer wieder gesagt, dabei ließ gar nicht ich, sondern sie unsere Zahnpastatube offen. Meistens jedenfalls. Sie wollte das nur nicht wahrhaben.
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    Einige der Zahnpastatuben in dem Regalabschnitt vor mir liegen nackt, das heißt ohne Schutzkarton da. Wäre ich eine Zahnpastatube, wäre ich lieber eine in Kartonverpakkung als eine, auf der jeder im Laden herumdrücken kann, als müßte er den Reifegrad einer Melone prüfen. Genau wie in Seidenpapier gewickelte Orangen sehen verpackte Tuben hochwertiger aus, und ich erinnere mich, daß es mir vor Jahren wie ein Rückschritt vorkam, als Zahnpastatuben plötzlich ohne Kartonschutz in den Läden lagen – weniger Verpackung, so lautete das Argument. Möglich geworden war der Wegfall des Kartons dadurch, daß die Tuben statt aus Metall nun aus Kunststoff hergestellt wurden und keine sie vor Verformungen schützende Schachtel mehr brauchten. Eine Zeitlang, so kam es mir vor, gab es dann kaum noch Tubenkartons, irgendwann aber kehrten sie zurück, wahrscheinlich weil sich auf Pappschachteln deutlich mehr von den hochwissenschaftlich klingenden Versprechen unterbringen lassen. Rasiercremetuben stecken heute noch, da aus Metall, in Kartonverpackungen – genau wie Klebstofftuben, die, je mehr man sie einrollt oder faltet, um den Kleber herauszuquetschen, an den Falzen einreißen, wodurch sich zusätzlich zur am Kappengewinde meist schon von glasigen Klebepopeln umgebenen Hauptöffnung ein oder zwei oder noch mehr Nebenöffnungen in der Tube bilden,aus denen Klebstoff quillt. Bei Zahnpastatuben aus Kunststoff kommt so etwas nicht mehr vor. 31
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    Ich gehe weiter und komme an der Präsentationsfläche des Kaffeevertriebs vorbei, der sich hier ein eigenes, gesondert beleuchtetes Regal, einen Shop im Shop eingerichtet hat. Ein Edelstahltopfset ist im Angebot, außerdem ein Milchschäumer aus Chrom, wie ich ihn auch einmal besessen habe oder noch besitze. Er besteht aus einem schmalen Gefäß mit Deckel und einem feinen, genau in das Gefäß passenden Sieb, das sich an einem durch den Deckel hindurchgeführten Stab auf und ab bewegen läßt. Nach dem Prinzip des Butterstampfens kann so Milchschaum erzeugt werden, ich habe das allerdings schon lange nicht mehr gemacht und den Milchschäumer auch schon lange nicht mehr gesehen. Zweimal habe ich ihn überhaupt nur benutzt, das erste Mal, als er neu war, das zweite Mal, als L., die ich gerade wiedergetroffen hatte, mit zu mir kam und ich ihr imponieren wollte. Ich stand am Herd und bewegte das Sieb sehr schnell durch die warme Milch auf und ab, so produzierst du also diesen tollen weißen Schaum, sagte L., lachte und meinte dann, für mich mußt du das nicht machen, ich mag gar keine Milch. Schon hatte die Sache mit dem Chrommilchschäumer sich erledigt. Beim Anblick eines Edelstahltopfsets wie dem, das hier gut ausgeleuchtet auf dem Regal neben dem koffeinfreien Kaffee steht, habe ich mich schon öfter gefragt, ob es wohl eines Tages, während des nächsten Krieges vielleicht, wieder Sammelaktionen geben wird, an deren Ende all das verchromte Edelstahlzeugs – all die nichtrostenden Badezimmermülleimer, Herdabdeckhauben, Sektkühler, Tortenplatten und Handtuchhalter – eingeschmolzen werden. Meine Großmutter hat hin und wieder davon gesprochen, daß sie anläßlich der Buntmetallsammlungen während des Krieges ihr Zinngeschirrund ihre Kupferkasserollen für den Endsieg hergab, der dann auf sich warten ließ. Alles, was die eifrigen Hitlerjungen einkassierten, wurde zusammen mit so mancher Kirchenglocke eingeschmolzen und zu Kriegsgerät verarbeitet, damit der Krieg ein wenig länger dauern konnte. In England sind noch heute Eisengitterstümpfe auf Mauern zu sehen, die ursprünglich – früher,
vor dem Krieg
, wie meine Großmutter immer sagte, das war die Zeitangabe, die sie am häufigsten verwendete – hohe Eisengitter trugen. Ob alle abgesägten Eisengitterzäune Großbritanniens für ein halbes Schlachtschiff gereicht haben? Für zwei? Heute müßte es genügen, erst einmal alle Einkaufswagen einzuschmelzen.
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    Ich schaue wieder auf meine Uhr und stelle fest, daß die Zeiger sich weitergedreht haben, jetzt kann ich eine Uhrzeit erkennen, zehn nach vier, aber es

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