Vier Äpfel
kann nicht zehn nach vier sein, ich bin doch schon Stunden, vielleicht sogar schon Tage hier, der Supermarkt hat mittlerweile durchgehend geöffnet, vierundzwanzig Stunden lang, und es ist fast nicht mehr möglich, den Ladenschluß zu verschlafen, so wie es früher, vor der Lockerung der Ladenschlußgesetze, ganz leicht passieren konnte. An den Samstagen, die keine langen Samstage waren, war das damals kein Problem. Der erste Samstag im Monat war ein langer Samstag, da durften die Geschäfte bis um sechs Uhr abends geöffnet bleiben und mußten nicht schon um ein oder zwei Uhr schließen. Weil genau das an allen anderen Samstagen der Fall war, passierte es nicht eben selten, daß ich samstagmittags, heute unvorstellbar, vor einer verschlossenen Ladentür stand, rüttelte und klopfte, und zwar vergeblich.
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Vielleicht träume ich diesen Supermarkt nur, vielleicht träume ich all das, was mir hier durch den Kopf geht, vielleicht bin ich auch einer der Life-Partner, die dort hinten in der Ecke, die mir vorher nie aufgefallen ist, in Nährbecken schlummern, vielleicht hat mich jemand herausgekauft und mir diese paar Erinnerungen an gemeinsame Einkäufe, einige als Paar besuchte Hochzeitsfeiern und eine Venedigreise aufgespielt. L. wollte immer, vor allem im Winter, unbedingt in die Sonne, nach Lanzarote oder Fuerteventura, all-inclusive oder in ein Ferienapartment, auf Inseln, an die ich mich überhaupt nicht erinnere, aber vielleicht kommt sie zurück und spricht ein Codewort, vielleicht erinnere ich mich dann und funktioniere wieder als netter Begleiter, hilfsbereiter Ehemann und Freund, der jeden Tag ins Büro geht und abends gutgelaunt nach Hause kommt. Als einer, auf den sie sich verlassen kann.
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Die Stirnseiten eines Regals, das weiß ich aus dem Katalog eines Ladenausstatters, heißen Gondelköpfe und gehören zu den begehrtesten Verkaufsflächen eines Supermarkts. Hersteller gewähren Sonderkonditionen und Prämien, um ihre Produkte dort präsentieren zu dürfen. Auf den Regalen des Gondelkopfs, vor dem ich nun stehe, liegt eine neue Variante eines eingeführten, mir schon lange, ich könnte sagen, schon immer bekannten Markenkekses in anderer, auffälliger Verpackung. Die Evolution dieses Gebäcks verlief vom schlichten, an den Rändern gezackten Butterkeks zu einer milchcremegefüllten, halbseitig schokoladisierten Sandwichkonstruktion, die nun als einzeln abgepackterSnack vermarktet wird und, nehme ich an, altbekannten Schokoriegeln Konkurrenz machen soll. Der gleiche, trockene, krümelige Keks muß offenbar immer wieder neu erfunden werden, im Mund aber verwandelt er sich stets in die klebrige Masse, die an der Außenseite der hinteren, oberen Backenzähne haften bleibt, mir gelingt es nur selten, sie mit der Zungenspitze von dort abzulösen, meist muß ich meinen Zeigefinger in die Backentasche schieben. Ich weiß nicht, warum mir gerade jetzt die brasilianischen Kekse einfallen, die ich in einer Bukarester Filiale der Supermarktkette Angst gekauft habe. Ich stolperte über einen mannsgroßen Pappaufsteller, in dem ein ganzes Sortiment leuchtendgelb verpackter Kekse präsentiert wurde, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, nahm eine Packung in die Hand, drehte sie hin und her und fühlte mich wie ein Entdecker. Wenn es sich um ein rumänisches Produkt handelt, warum kenne ich diese Kekse dann nicht, ich habe doch schon einige Bukarester Läden und Supermärkte besucht, dachte ich, studierte die Packungsbeschriftung und staunte, als ich herausfand, daß die Kekse in São Paulo hergestellt und verpackt worden waren. Brasilianische Kekse in Rumänien? Ich kaufte eine Packung nicht nur deshalb, weil ich noch nie brasilianische Kekse gegessen hatte, sondern auch, weil ich wissen wollte, ob sie so gut waren, daß sie es verdienten, von São Paulo nach Bukarest transportiert zu werden. Ich weiß nicht mehr, zu welchem Urteil ich damals kam. Der
strudel cu mere
, der in Bukarester Bäckereien verkauft wurde, oft durchs offene Fenster gleich aus der Backstube heraus, ein Apfelstrudel, von dem ich L. immer vorgeschwärmt habe, schmeckte auf jeden Fall besser.
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Ein digitaler Einkaufsassistent mit Navigationsfunktion könnte mir mitteilen, was mir noch fehlt und wohin ich den für meine Bedürfnisse viel zu großen, mich ziemlich leer angähnenden Einkaufswagen schieben sollte. Statt dessen muß ich hier wohl bis ans Ende aller Tage meine Kreise ziehen und Dinge übersehen, die ich gut gebrauchen könnte.
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