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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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Nüchternheit, von der Michael in
nachdenklicheren Momenten nicht wusste, ob er sie bedauern oder begrüßen
sollte. Es war wie der Besuch einer Masseurin oder Nachhilfelehrerin – wäre er
zwanzig Jahre älter gewesen, hätte er auch an eine Krankenschwester oder
Physiotherapeutin denken können –, es war profan. Als dienten Serafinas Besuche
irgendeinem gesundheitlichen Zweck. Vielleicht taten sie das. Gesundheit ist
ein weiter Begriff.
    Ein bisschen verliebt war Michael doch entgegen seiner Beteuerung,
zumindest gerührt oder bezaubert, denn sie hatte eine Art, beim Reden zu
gestikulieren, in der sie alle Sprachen, die sie beherrschte, miteinander
verband. Das kleinteilige italienische Gestikulieren mischte sich mit dem
ausgreifenden und eher theatralischen französischen, dem zeigenden deutschen,
und dem fast wegwerfenden englischen – ihre Hände flogen im Raum umher wie
Fledermäuse in der Dämmerung –, Michael hätte sie allein deshalb, sooft es
ging, in Gespräche verwickelt, aber das war nicht nötig, denn sie redete
sowieso immer. Sogar beim Sex. Dann allerdings weniger informativ als
lautmalerisch. Etwas zwischen Gesang und Text.
    Er hatte ihr nie seine Musik vorgespielt. Das Inkognito blieb
gewahrt. Auch ihr band er den Bären von den Antiquitäten und dem reichen
Musikverleger auf, der ihn hier umsonst wohnen ließ. Sie war mit ihrem Mann
später eingezogen und hatte nichts mitbekommen, was sie an dieser Legende hätte
zweifeln lassen können.
    ~
    Nach einer kleinen Runde bis zum Hafen und wieder zurück
ging Michael noch einmal, an dem noch immer schlafenden Thomas im Salon vorbei,
nach oben in sein Studio, hörte sich Stone to Sand auf Kopfhörern an und schickte die Datei an Ian. Der hatte im Verlag dieselbe
Software und kannte sich gerade gut genug damit aus, dass er die Sachen anhören
und weiterleiten konnte. Erin würde das Lied am nächsten oder übernächsten Tag
hören.
    Michael hatte schon alles ausgeschaltet, als ihm eine Melodie
zuflog. Er fuhr den Rechner wieder hoch, startete das Musikprogramm, suchte
einen Fender-Rhodes-Sound und spielte sie ein. Und noch während des Spielens
floss der Text hinzu wie ein kleiner Bach, der in einen größeren mündet: Every pace and every choice leave their trace in people’s voice,
all the losses, hurts and stings are what you hear when someone sings.
    Er arbeitete weiter, fand einen Vers, I don’t
know you, you don’t know me, as long as there’s no melody, but then as soon as
someone sings, we get to fly with common wings, all over landscapes of our
past, we share the view, we share at last, our greed, our guilt, our loyalties,
we share it all in melodies. Er fand eine ruhige, aber spannungsvolle
Akkordfolge und war nach drei Stunden, in denen er nebenbei Thomas’ Weinflasche
geleert und sieben Zigaretten geraucht hatte, fertig.
    Er schickte das Lied dem anderen hinterher nach Dublin, öffnete die
Fenster und fühlte sich belohnt vom Tuckern eines Müllboots und Zwitschern der
Spatzen, die ihre ersten schnellen Linien durch den Morgenhimmel flogen.
    ~
    Michael bildete sich längst nicht mehr ein, Erin zu
lieben. Das war natürlich nur ein Vorwand gewesen, sich nie binden zu müssen,
ein konstruiertes Ideal, mit dessen Hilfe er sich vormachen konnte, nicht wirklich
allein zu sein. Noch in Berlin hatte er gelegentliche Rückfälle gehabt und
wieder geglaubt, er warte noch auf den zwar späten, aber doch irgendwann einmal
richtigen Zeitpunkt, um mit Erin in Verbindung zu treten, und lasse aus freien
Stücken die Gelegenheiten dazu immer wieder verstreichen. Aber wie ein
Crescendo ohne hörbaren Anfangspunkt war die Erkenntnis in ihm gewachsen und
irgendwann zu Bewusstsein geworden: Er wollte nicht. Er wollte nicht vor Erin
stehen, und alles wäre anders. Die immaterielle Einheit sollte nicht materiell
werden. So, wie es war, war es richtig – alles andere konnte nicht zu etwas
Gutem führen.
    Trotzdem waren die Kompositionsphasen eine Art Liebesdienst
geblieben, fühlten sich intim und außergewöhnlich an, waren Höhepunkte in
seinem Gefühlsleben und ähnelten dem, was er von Liebe zu wissen glaubte, so
sehr, dass ihn ein möglicher Unterschied zu Erins Anwesenheit nicht
interessierte. Wenn er komponierte, wurden sie und er ein einziger Mensch,
getrennt nur in Nebensächlichkeiten wie Geschlecht,

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