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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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einige alte Bäume den Brand überlebt. Obwohl sie weder Obst trugen noch einen anderen Nutzen hatten, hatte Vater sie stehen lassen. Dort habe ich mich immer wohlgefühlt, und dorthin schlenderte ich jetzt. Unter den nackten Sohlen spürte ich, wie der Boden seit Sonnenuntergang abgekühlt war. Die Luft war noch immer drückend, ich trug nur ein T-Shirt und eine knielange Hose und fror nicht im Geringsten.
    Als Kinder hatten Christoph und ich mit alten Brettern und langen Nägeln auf der Buche ein Baumhaus errichtet. Sie war unser Lieblingsbaum gewesen, die glatte graue Rinde wirkte fast silbern, und die Äste der dichten, ausladenden Krone hingen so tief herab, dass man an ihnen leicht hinaufklettern konnte bis zum dicken Stamm, und am Stamm weiter bis ganz hinauf, wo man zu allen Dörfern ringsum blicken konnte. Das Baumhaus war schief und mickrig gewesen, aber unseres. Bis es ein Sturm heruntergeholt hatte und wir zu alt gewesen waren, um es wieder aufzubauen.
    Vorsichtig legte ich die Hand auf den glatten Stamm, in dessen Rinde wir die unterschiedlichsten Fantasienamen eingeritzt hatten: Batman, Zottel, Gollum, Falkenauge, Winne2, Tom + Jenny, Raini, Pam, Tim, Vanni, Schwarzbart und ein Dutzend weitere. Nur nie unsere eigenen, damit Vater nicht wusste, dass wir es waren.
    »Wenn ich die Saukerle erwische, gibt’s Ärger!«, hatte er jedes Mal getobt, nachdem unsere Taschenmesser dem Baum neue Wunden zugefügt hatten. Doch natürlich hat er nie jemanden erwischt, ich wusste ja, wann er nicht zu Hause und wir sicher waren.
    Ich tastete über die wulstigen alten Narben im Holz, und mich packte der Wunsch, Christophs Namen in den Baum zu schneiden, ihn endlich mit dem richtigen Namen zu verewigen. Aber ich hatte kein Messer bei mir, ließ es sein und trat einen Schritt zurück.
    Hier hinten hörte ich nicht einmal mehr die Musik, nur eine Kuh nebenan muhte laut.
    Christoph war nach einer Party in der mietbaren Wengerscheune nachts auf dem Rad unterwegs gewesen, auf der kurvenreichen Straße zwischen Unterhöfen und Hartingen. Ohne Licht, alkoholisiert und dämlicherweise nicht einmal auf dem neuen Radweg. Er soll auf die Gegenfahrbahn geraten sein, manche vermuteten, er sei wieder einmal freihändig unterwegs gewesen. Aber ich wusste, dass er freihändig fahren konnte, ich hatte es oft genug gesehen. Warum wollte außer mir keiner glauben, dass Gerber auf die falsche Bahn gekommen war? Er war nur freigesprochen worden, weil er eine Zeugin und einen Psychologen und vor Gericht ganz furchtbar gestammelt hatte. Lügen, Freundschaftsdienste und Theater.
    »Scheiße.« Ich schleuderte mein viel zu warmes, viel zu bitteres Bier über die weiß getünchte Mauer. Die Flasche flog über den angrenzenden Feldweg und weit hinaus ins Maisfeld des Huberbauern. Dort stürzte sie raschelnd durch die Blätter, schlug auf den ausgetrockneten Boden und zerbrach klirrend. Dann herrschte wieder Stille. Vielleicht wuchsen die Pflanzen ja auch mit Bier, wenn schon seit Wochen der Regen ausblieb.
    Ich schwang mich auf die Mauer, auf der ich mit Christoph heimlich die erste Kippe meines Lebens geraucht hatte, und ließ die Beine auf der Außenseite baumeln. Damals hatte die Sonne geschienen, jetzt war beinahe Neumond, und ich hatte keinen Tabak dabei. Dennoch glaubte ich, auf der Zunge ein leichtes Kribbeln und ein Gefühl von Taubheit zu spüren. Ich spuckte aus.
    Reglos starrte ich in die Nacht über dem Maisfeld, in den unendlichen, wolkenfreien Himmel. Die Sterne leuchteten hell und kalt. Unvermittelt fiel mir eine Statistik ein, nach der Anfang August jede Minute eine Sternschnuppe zu sehen sein sollte, so viele wie zu keiner anderen Zeit im Jahr. Kindern erzählte man nichts von Statistiken, sondern dass man sich etwas wünschen durfte, wenn man eine Sternschnuppe sah. Kindern und seiner Freundin.
    »So ein Blödsinn«, murmelte ich in die Stille.
    Ich wünschte, Christoph wäre noch am Leben , dachte ich dennoch, als ich die erste Sternschnuppe entdeckte, die jedoch im Sturz verglüht war, bevor ich den Gedanken zu Ende gebracht hatte.
    »Mit achtzehn hau ich hier ab«, hatte Christoph gesagt. »Am besten gleich nach der Abifeier. Die Nacht durchfeiern und mit dem Sonnenaufgang verschwinden. Hier werde ich ganz bestimmt nicht alt.«
    Und jetzt hatte sich dieser Satz anders bewahrheitet als gedacht; er würde auch anderswo nicht alt werden. Stattdessen lag er tot und verbrannt in der hintersten Ecke des Dorffriedhofs, zwischen den

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