Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
Vom Netzwerk:
gegenüber hin und hob ebenfalls Erde aus dem Loch. Dabei achtete sie darauf, sich keinen Nagel abzubrechen.
    Selina schnaubte verächtlich und sagte: »Bring die Blumen hinter dir nicht durcheinander.«
    »Seh’ ich so blöd aus?«
    »Pass einfach auf!« Selina stieß die Gartenschaufel gefährlich nahe an Lenas Händen ins Erdreich.
    »Pass du doch auf!«
    »Reg dich ab. Deinen teuren Nägeln wird schon nichts passieren.«
    »Sagt das Mädchen mit der Schaufel, das sich nicht einmal die Hände schmutzig macht.«
    »Was willst du …?«
    »Lass mich mal!«, unterbrach sie Maik, kniete sich vor Selina hin und griff nach der Schaufel.
    »He!« Wütend zog sie den Arm zurück.
    »Ich dachte, du brauchst vielleicht eine Pause, wenn du lieber schwätzt als arbeitest.«
    »Nein.« Stumm grub Selina weiter.
    Ich achtete darauf, meine Hände zwischen ihr und Lena zu halten, damit sie nicht doch noch getroffen wurde. Doch Selina begnügte sich damit, uns beiden ab und zu die Erde über Hände und Unterarme zu werfen. Warnend stierte ich Lena an, und sie beschwerte sich nicht.
    Die Kirchturmuhr schlug einmal. Eins oder viertel zwei, ich wusste es nicht, hatte nicht darauf geachtet. Das Loch war inzwischen so tief, dass ich mich weit vorbeugen musste, um den Boden zu erreichen.
    Wir wechselten uns ab, und auch Lena musste sich vorbeugen, und dabei löste sich ihr Ausschnitt ein Stück von der Haut. Es war zu dunkel, um etwas Genaues zu erkennen. Ich linste trotzdem hin und schämte mich dafür, und dann beugte ich mich wieder ins Loch, und dann wieder sie, und ich wollte nicht hinsehen und wollte es doch. Der Träger ihres BH war schwarz. Ich sah auf ihre Hände und das Haar, wenn der Kopf unten war, ihre Augen streifte mein Blick nur, wenn wir beide oben waren.
    »Meint ihr eigentlich, es ist Schicksal, dass wir uns hier alle getroffen haben?«, fragte Maik, der nicht recht zu wissen schien, wie er uns helfen sollte, ohne seine Finger zu gefährden.
    »Nein«, sagte Selina und stach tief in die Erde.
    »Ja«, sagte Lena im selben Moment. »Was soll es denn sonst sein?«
    »Zufall«, sagte ich. Ich glaubte nicht an Schicksal, damit sollte man mir vom Leib bleiben. Es konnte nicht vorherbestimmt gewesen sein, dass Christoph totgefahren wurde. Was wäre denn das für ein widerlicher Drecksack von Schicksal?
    »Zufall?« Maik schnaubte verächtlich. »Vier vollkommen unterschiedliche Leute, die sich unabhängig voneinander gleichzeitig am selben Grab treffen? Mitten in der Nacht, wenn der Friedhof geschlossen ist? Das wäre ein arger Zufall.«
    »Es ist Christophs Geburtstag«, sagte ich und suchte noch im Reden nach weiteren Erklärungen. »Keiner von uns wollte ihn tagsüber besuchen. Also mussten wir alle zwischen zehn und Mitternacht heimlich auftauchen. Je später, desto besser wegen der Nachbarn. Es ist vollkommen logisch, dass wir alle jetzt hier sind.«
    Selina nickte.
    »Wir hätten uns trotzdem verpassen können«, beharrte Lena und unterbrach ihre Arbeit.
    »Das wäre dann eben Pech gewesen.« Mit einem Achselzucken hob ich weiter schwarze Erde aus der Tiefe.
    »Für mich zumindest war es Schicksal, dass du gekommen bist«, sagte Maik leise, aber bestimmt. »Genau dann und nicht zwei Minuten später.«
    »Warum nicht einfach Glück?« Ich legte die Hände auf die Oberschenkel und sah ihn an.
    »Glück hatte ich viel zu selten im Leben. Das kann mir nicht geholfen haben.« In der Dunkelheit konnte ich seine Gesichtszüge nicht richtig deuten, Erleichterung oder Wehmut.
    »Als du damals von der Brücke gesprungen bist, ohne dir was zu tun, war das kein Glück?«
    »Nein. Ich wusste, wie tief das Wasser war. Glück wäre gewesen, wenn ich Jenny bekommen hätte und keine Erkältung.«
    »Es war Schicksal. Keiner von uns hätte das hier allein durchgezogen«, sagte Lena nachdrücklich. »Hätten wir uns nicht getroffen, würde Christoph nie seine Seebestattung bekommen. Niemals. Das ist Schicksal.«
    »Das ist …«, sagte Selina, und dann stieß die Schaufel auf etwas Hartes, und alle verstummten.
    »Christoph«, flüsterte sie.
    Keiner von uns rührte sich.
    Mit einem Mal hatte uns Scheu erfasst, wir zweifelten, ob wir wirklich das Richtige taten. Weder Lena noch ich langten nach unten, um die letzte gelockerte Erde von Christophs Urne zu kratzen. War das wirklich das, was Christoph gewollt hätte?
    Mein Blick huschte umher, als wäre die Antwort irgendwo in der Nacht zu finden. Ich war nicht abergläubisch, aber in

Weitere Kostenlose Bücher