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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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Filmen schickten die Toten einem immer ein Zeichen, und so war der Blick ein Reflex. Nichts regte sich auf dem ganzen Friedhof, kein Wind frischte auf, kein Ast fiel vom Stamm, kein Eichhörnchen huschte über den Weg, keine Katze maunzte, kein Vogel krächzte, und schon gar nicht zeigte sich eine geisterhafte Erscheinung. Im Unterschied zu den Figuren im Film hätte ich auch nicht gewusst, ob ein Krächzen Ja und ein Blätterrauschen Nein bedeutete.
    Wir rührten uns nicht. Nur Selina, erschöpft vom Graben, atmete schwer.
    Gab es tatsächlich so etwas wie Totenruhe? Rissen wir Christoph aus seinem ewigen Frieden und verdammten ihn zu …
    Ja, zu was eigentlich?
    Christoph hatte Ruhe gehasst. Was sollte er also eine ewige wollen? Wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte er sich für ewige Rastlosigkeit entschieden statt für Stillstand. Die Vorstellung eines Nirwanas war für ihn so schrecklich gewesen wie die einer Hölle.
    Wie kann das Ziel des Lebens ewige Leblosigkeit sein? , hatte er mal gefragt.
    Unwillkürlich lächelte ich.
    Langsam zog Selina die Gartenschaufel aus dem Loch und legte sie hinter sich. Dann beugte sie sich hinab und lockerte die letzte Erde fast zärtlich mit bloßen Händen. Stumm halfen wir anderen ihr und legten die Urne frei. Unsere Finger, Arme und Köpfe berührten sich immer wieder, ich bekam eine Strähne von Lenas Haar in den Mund und roch frisch aufgeworfene Erde und Lenas schweres Parfum und auch das dezentere von Selina, irgendein Deo oder Shampoo oder Duschgel und dennoch den Schweiß von uns allen.
    Das polierte Eisen der Urne war kühl, die Fingernägel schrappten über die im Deckel eingravierten Buchstaben. Mir lief ein Schauer den Arm hinauf, die Härchen richteten sich auf, Selinas Finger strichen über meine, und ich dachte: Christoph .
    Ich berührte Lena.
    Maiks Lippen bewegten sich, und ich war überzeugt, dass er lautlose Entschuldigungen murmelte.
    Lena wischte wieder und wieder Erde von der Urne, obwohl ständig neue von den offenen Schachtwänden herunterrieselte.
    Tiefer und tiefer gruben wir einen Spalt um die Urne herum, in den wir schließlich fassten und sie heraushoben. Sanft setzten wir sie vor das Grab und knieten uns schweigend um sie herum.
    »Und jetzt?«, fragte ich nach einer Weile, weil sonst niemand etwas sagte.
    »Holen wir die Asche heraus«, bestimmte Lena.
    »Warum nehmen wir nicht einfach die ganze Urne mit?«, fragte Maik.
    »Egal, wie gründlich wir die Erde zurückschaufeln, es kann sein, dass wir Spuren hinterlassen, die wir im Dunkeln nicht sehen, aber irgendwer morgen in der Sonne. Wenn sie dann das Grab öffnen, ist es gut, wenn die Urne noch in der Erde steckt.«
    »Du glaubst, die heben einfach so ein Grab aus, nur weil Erde herumliegt?«
    Lena zuckte mit den Achseln. »Ich würde es nicht drauf ankommen lassen.«
    Wer auch immer sie waren, Polizei, Pfarrer, Angehörige oder irgendein Friedhofsamt, falls es das gab. Keiner von uns wusste es.
    »Und was machen wir mit der Asche?«, fragte ich.
    »Wir packen sie in meinen Beutel«, schlug Lena vor.
    »Nein«, widersprach Selina sofort. »Du bekommst ihn nicht allein.«
    »Und was willst du sonst tun? Ihn dir in die Hosentasche stecken?«
    Die beiden Mädchen starrten sich an, und einen verrückten Augenblick lang dachte ich, sie würden gleich übereinander herfallen und sich prügeln.
    »Ich müsste auch noch ein oder zwei Beutel in meiner Satteltasche haben«, sagte Maik ruhig und stand auf. »Ich geh sie mal holen.«
    »Dann haben wir zwei oder drei«, sagte ich. »Aber wir sind zu viert.«
    »Fängst du jetzt auch noch an?« Maik klang mehr verwirrt als verärgert. »Christoph geht doch leicht in die zwei, drei Beutel rein.«
    »Wie sieht es mit dir aus?«, fragte ich Lena, ohne auf Maik einzugehen. Mich hatte eine alberne Idee von Gleichberechtigung gepackt, so eine Kinderlogik. Bei drei Beuteln wäre immer einer benachteiligt, es sei denn, wir würden uns mit Tragen abwechseln. Aber das erschien mir kaum praktikabel. »Hast du noch mehr in deinem Roller?«
    »Kann sein«, sagte sie ausweichend.
    »Dann schau doch bitte mal nach.«
    »Gehen wir«, drängte Maik, bevor sie etwas entgegnen konnte, und nahm sie mit in Richtung Tor.
    »Hatte Christoph was mit der?«, zischte Selina, als Lena und Maik außer Hörweite waren.
    »Nicht, dass ich wüsste«, sagte ich.
    »Lüg mich bloß nicht an.« In ihrer Stimme schwang so viel Wut und Kälte mit, als wäre ich ihr Problem und nicht

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