Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Lena.
»Das tu ich nicht, hab ich nie getan.«
»Und was macht sie dann hier?«
»Ich weiß es nicht. Christoph hat sie nie erwähnt, das schwör ich dir.«
»Nie? Ehrlich?«
»Vielleicht irgendwas Belangloses über die Schule oder über die schwarzen Klamotten oder den Knochenroller, das, was alle gesagt haben. Sonst nichts. Ich war selbst überrascht, als sie hier auftauchte.« Dass ich sie auf der Beerdigung gesehen hatte, verschwieg ich. Da waren viele gewesen, einhundertsieben oder einhundertzwölf, genau konnte ich mich nicht erinnern.
»Ich will, dass sie verschwindet.«
»Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Immerhin ist sie hier. Seine angeblichen Freunde feiern eine Party, aber sie ist hergekommen. Ich finde, dadurch hat sie auch das Recht, hier zu sein.«
Ihr Blick wurde noch kälter. »Fängst du jetzt auch mit der Schicksal-Nummer an? Du hast gesagt, es ist ein dummer Zufall.«
»Dass wir uns getroffen haben, ja. Aber dass sie überhaupt hier ist, ist keiner, sondern ihre Entscheidung. Sie ist mit Absicht hier, wie wir alle.«
»Aber warum? Sie war nicht mit ihm befreundet!«
»Da musst du sie fragen.«
»Das werde ich auf keinen Fall!«
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte ein Lächeln, das misslang.
»Und du bist sicher, dass sie nichts …?«
»Christoph hat dich geliebt, keine andere«, sagte ich und dachte an die Kiesgrube. »Aber sie kann sich ja trotzdem in ihn verknallt haben.«
»Dann ist sie also tatsächlich in ihn verliebt gewesen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Warum sagst du es dann?«
»Warum sollte sie sonst hier sein?«
Wir schwiegen, die Stille zog sich hin und wurde mir mit jedem Moment unangenehmer, und so betonte ich noch einmal: »Er hat sie nie erwähnt.«
»Ich vermisse ihn wie verrückt«, gestand sie leise. »Es tut immer noch weh, wenn ich an ihn denke. Und das tu ich jeden Tag, jede Stunde.«
»Ich weiß.«
»Ich kann nicht vergessen, wie er zugerichtet war. Beim Einschlafen sehe ich seinen zerschmetterten Kopf vor mir, und dann sticht es mir in den Schädel, und ich reiße die Augen auf und starre ins Dunkel. Sehe seine verdrehten Beine, seine Hände, seine eingedrückte Brust, und alles ist Schmerz. Ich denke daran, dass sein Herz nicht mehr schlägt, und dann wird meines ganz klein und hart wie Stein und will auch aufhören zu schlagen. Und ich lass es nicht, befehle ihm: weiter, immer weiter , weiß aber nicht, warum. Alles hat so wenig Sinn ohne ihn.« Selina schluckte. »Dass die Zeit alle Wunden heilt, ist eine Lüge. Sie lässt einen höchstens abstumpfen. Sich mit etwas zu arrangieren, ist doch keine Heilung, und zu vergessen auch nicht.«
»Ja.« Ich nickte, weil ich mir dieses Geschwätz von der mit wundersamen Heilkräften ausgestatteten Zeit auch viel zu oft hatte anhören müssen, als wäre sie eine Halbgöttin in Weiß, Dr. med. Zeit. Doch eigentlich rinnt sie nur blöde vor sich hin, und die wirklich Kranken denken bei Zeit nicht an Heilung, sondern fragen ängstlich, wie viel ihnen noch bleibt. X Wochen oder Y Tage, es geht um Fristen statt um Heilung.
Die Zeit heilt alle Wunden , das war eine Binsenweisheit, die zur Forderung nach Rückkehr zur Normalität passte: der Glaube, dass alles wieder so werden könnte, wie es mal gewesen ist. Aber wie? Und warum? Etwas Unwiderrufliches hatte sich geändert. Und was war an Normalität eigentlich so erstrebenswert?
Da verstand ich meine Eltern nicht. Egal, ob jemandem etwas außergewöhnlich Gutes oder Schlechtes widerfuhr, egal, ob ein Grund zum Feiern oder um die Zügel schleifen zu lassen , immer hieß es: Ab morgen ist wieder Normalität . Nach Christophs Tod hatten sie mir ein Mehr an Zeit zugestanden, es gab keine konkreten Fristen. Aber am Grundsatz der heiligen Normalität wurde nicht gezweifelt und schon gar nicht gerüttelt.
Aber was war sie schon?
Aufstehen mit dem Wecker, Tagwerk nach Dienst- oder Stundenplan, Hausaufgaben oder Überstunden und ein pünktliches Abendessen um 19:30 Uhr ohne Vorspeise und Nachtisch, möglichst mit Vater. Dreißig Mal kauen bei jedem Bissen, natürlich mit geschlossenen Lippen, dann schlucken. Alles wird schweigend verdaut, und bis zur Tagesschau ist die Spülmaschine eingeräumt.
»Wenn man einen Arm verliert, dann verheilt zwar irgendwann die Wunde, aber trotzdem hat man nur noch einen Arm. Der andere ist für immer weg, das ist keine richtige Heilung«, sagte ich. »Und wenn auch die Schmerzen verschwinden, der Phantomschmerz bleibt für
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