Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
noch einen tiefen Zug vom Wein.
»Ich hab Christoph ganz anders kennengelernt als du«, sagte Maik und griff sich die Flasche.
»Erzähl.«
Selina nickte und lächelte. »Jeder sollte das erzählen.« Lena biss sich auf die Lippe, widersprach jedoch nicht. Sie wusste, dass wir es alle wissen wollten. Sie konnte nicht schweigen, und in dem Fall konnte sie auch nicht lügen. Geteilte Erinnerungen an Christoph verlangten Ehrlichkeit, sie ersetzten uns die Rede am Grab. So hätte sie sein sollen, nicht das erprobte Korsett aus unpersönlichen Floskeln. Der Tod fügte jedem einen anderen Schmerz zu, ließ jeden mit anderen Erinnerungen zurück. Warum versuchte man das alles so verzweifelt in eine Schablone zu pressen? Das machte den Toten beliebig.
»Es muss in der fünften oder sechsten Klasse gewesen sein, als wir uns zufällig auf der Straße trafen«, begann Maik. »Wir waren beide unterwegs zum Überlaufgraben, der damals völlig trocken war. Ich hatte gehört, dass man von da in unterirdische Rohre klettern konnte, und hatte eine Taschenlampe …«
Aus der Ferne näherten sich Motorengeräusche, und Maik brach ab. Zwei oder drei Mofas oder kleine Motorräder knatterten heran. Die Straße war weit weg, sie mussten sich auf dem Forstweg befinden, den wir auch genommen hatten. Wir drehten uns um und warteten, Maik legte die Hand schützend auf den Aschebeutel.
Kurz darauf preschten vier Maschinen auf die Lichtung, mit vier Kerlen und zwei Mädchen, keiner hatte einen Helm auf. Sie waren alle rausgeputzt, als ginge es in den Club, und hielten nur wenige Meter vor uns. Neugierig musterten sie uns.
»Salut«, rief der Erste zur Begrüßung und fragte, was wir auf ihrer Lichtung wollten. Er hatte die dunklen Haare kurz geschoren, die Ohrläppchen wurden von zwei großen schwarzen Ringen ausgeleiert.
Maik stand auf, den Beutel in der Hand, und sagte langsam: »I don’t speak French. Sorry.«
Ich sagte, ich könne ein paar Worte, aber nicht viel. Dabei machte ich ungefähr ein halbes Dutzend Grammatikfehler und hatte einen deutlichen Akzent.
Sie lachten und fragten auf Englisch, ob wir Deutsche seien und woher wir genau kämen.
»Bayern«, sagte Maik.
»Ah, Bayern München.« Der eine nickte. »Franck Ribery ist grandios. Verrückt, aber grandios.«
»Ribery, jawohl.« Ich nickte auch.
»Schweinsteiger«, sagte ein anderer Franzose mit großer Mühe und lachte.
»Müller. Thomas Müller«, entgegnete ich.
»Ah, oui!«, riefen beide. Manchmal war Kommunikation einfach, und es reichte aus, sich die Namen von Fußballern an den Kopf zu werfen.
»FCA.« Maik deutete auf sich selbst. »Nix Bayern, FC Augsburg.«
Die Franzosen zuckten ratlos mit den Schultern, ich lachte. »Das braucht wohl noch ein paar Saisons. Am besten mit Champions League.«
»Schnauze.«
Die Mädchen sahen sich zweifelnd an. Genau genommen drei Mädchen und einer der Franzosen, denn die zweite Französin, eine hübsche mit brünetten Locken und vollen, rosa schimmernden Lippen, sagte, sie würde als Bayerntrainer eher im Vier-vier-zwei-System spielen lassen als im Vier-zwei-drei-eins. Der Meinung war ich nicht, dafür aber beeindruckt.
»Hauptsache, sie schaffen die gelben Karten fürs Trikotausziehen ab«, sagte die andere Französin, die immer nur Welt- und Europameisterschaften mitschaute.
Wir lachten, und Maik schien sich zu ärgern, dass er sein T-Shirt wieder angezogen hatte.
Reihum stellten sie sich vor, und auch wir sagten unsere Namen; dafür erhoben sich auch Lena und Selina von der Isomatte. Wir wussten nicht, ob wir ihnen dabei die Hände geben sollten oder Küsschen auf die Wange, und auf welche zuerst. Auch die Franzosen wirkten unschlüssig, und so taten wir nichts, standen herum, hoben die Hände und zeigten Zähne.
Die Gelockte hieß Fabienne, die anderen Namen rauschten an mir vorbei.
Maik ging zu seinen Satteltaschen und legte den Beutel hinein. Er zog den Gurt fest und überprüfte zweimal den Verschluss.
Ich sprach mit Fabienne über Fußball und half beim Abladen der Weinkanister, Decken und des Ghettoblasters. Kaum waren wir fertig, kamen noch zwei Mädchen auf einem Motorrad und ein Typ auf einem Rad. Er hielt sich an einer Schulter fest, ließ sich ziehen und rauchte dabei, die Mädchen lachten. Ich erkannte in ihm einen der drei Männer aus der Stadt, nicht den Wortführer.
»Das nenne ich Zufall. Erst Nein sagen und dann schneller auf der Party sein als ich.« Er schüttelte uns die Hände und lachte.
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