Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Christoph sagte: Na ja, ich wohne halt noch daheim, und mein Zimmer liegt neben dem Schlafzimmer meiner Eltern. «
Lena lachte.
Ich wollte irgendwas Cooles oder Geistreiches ergänzen, aber mir fiel nichts ein. Selina kniete noch immer. In mir wurde der Gedanke ans Sterben schier übermächtig.
Die Kinder blickten scheu zu Selina und sagten etwas zu ihren Eltern. Die schüttelten nachdrücklich den Kopf. Mitleid zeigte sich auf dem Gesicht der Mutter, wahrscheinlich dachte sie, Selina hatte hier jemanden verloren. Der Jüngere hob seinen angebissenen Schokoriegel und deutete auf Selina. Die Mutter strich ihm über den Kopf. »Non.«
Ich dachte an Christophs Blut auf dem Asphalt und daran, dass ich irgendwann selbst auch sterben würde. Die plötzliche Angst vor dem Tod presste mir das Herz so fest zusammen, dass ich mich fast gekrümmt hätte. Nicht hier, nicht vor Lena.
»Ich muss mal«, sagte ich, damit mir niemand folgte, und verschwand in dem Waldstreifen, der nur wenige Meter hinter den Tischen begann. Er war weniger breit, als ich gedacht hatte, dahinter lag ein kleiner Abhang. Unten erstreckte sich eine frisch gemähte Wiese, und dann folgten Felder bis zum nächsten Dorf, dessen erste Häuser ich gut erkennen konnte. Ganz links hingen weiße Laken auf einer Leine. Auf der Wiese unter mir vertrocknete abgeschnittenes Gras zu saftlosem Heu.
Ich könnte kopfüber hinabstürzen und mir das Genick brechen, dann bräuchte ich keine Angst mehr vor dem Sterben zu haben und könnte einfach neben dem Heu verdorren.
Ich brauchte zwei, drei Sekunden, bis mir das Absurde daran aufging. Ich konnte nicht darüber lachen, stand einfach nur da und fühlte mich einsam.
Sterben kann man jeden Tag.
Ich starrte den Abhang hinab. Schaut man lange genug in einen Abgrund, schaut dieser zurück , oder so ähnlich. Blöder Spruch, als wäre man selbst schuld. Was sollte man machen, wenn der Abgrund plötzlich vor einem auftaucht? Wegschauen und reinfallen?
Ja, ich weiß, meine Metaphern sind dämlich.
Nicht jeder Tag nach dem Unfall war gleich schlimm gewesen, aber ich hatte mich immer irgendwie benommen gefühlt, ziellos. Seit unserem Aufbruch war es besser geworden, ich wusste, wo ich hinwollte, wohin Christoph gewollt hatte, aber jetzt stand ich hier.
Du hattest auch davor ein Ziel, Rache an Gerber. Du warst nur zu schwach.
Eben, mit der Pistole in der Hand, hatte ich mich besser gefühlt, stärker.
Ich bekam Angst vor meinen eigenen Gedanken. Es war ein Unfall gewesen, und auch wenn ich an seinem Freispruch zweifelte, zweifelte ich an seiner alleinigen Schuld. Auf keinen Fall konnte ich auf ihn feuern.
Ich bin kein Mörder.
Und wenn du keine Zweifel an seiner Schuld hättest?
Habe ich aber!
Mit beiden Handballen schlug ich mir gegen den Kopf. Gerber musste da endlich raus. Ich dachte an die Pistole und schloss die Augen. Und Selina machte sich Sorgen, ob Maik austickte?
Plötzlich hielt ich die Einsamkeit nicht mehr aus. Ich zog mein Handy aus der Tasche und rief meine Mutter an, weil Pia nicht ranging.
»Jan! Das ist ja schön, dass du anrufst. Geht’s dir gut?«, fragte sie. »Habt ihr auch Spaß?«
»Mir geht’s gut, ja«, log ich. »Kannst du mir mal kurz Pia geben?«
»Natürlich. Ich hol sie schnell her, sie ist im Wasser.«
Ich wollte meiner Schwester unbedingt sagen, dass ich ihr alles vermachen würde, falls ich sterben sollte. Christoph war tot, Lena tabu, Selina auch, und allen anderen Freunden gönnte ich nichts. Ich wollte nicht, dass meine Eltern meine Sachen behielten und sie wie Museumsstücke behandelten, und ich wollte auch nicht, dass sie sie wegwarfen. Und was sollten sie mit ihnen anfangen?
»Jan! Was gibt’s?«, rief meine Schwester. Sie klang fröhlich und froh, mich zu hören.
Ich fragte, ob sie mein Zimmer wolle, wenn ich auszog. Das Wort sterben brachte ich nicht über die Lippen.
»Ich will nicht, dass du ausziehst«, sagte sie, und das war schön.
»Jeder muss irgendwann … ausziehen«, sagte ich. Ich hatte einen Kloß im Hals.
»Aber es ist besser, du behältst dein Zimmer, falls du mal zu Besuch kommen willst«, sagte sie, und das brachte meine Metapher vom Tod vollkommen durcheinander.
»Da hast du recht.«
»Aber deinen Fernseher nehm ich.«
»Okay.« Sie hatte mich überrumpelt. »Halt! Erst, wenn ich ausziehe.«
»Gut. Mama möchte dich noch mal sprechen.«
»Gleich«, sagte ich. Ich wollte ihre fröhliche Stimme noch ein wenig hören. »Habt ihr Mutters Hut
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