Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
schon vorbeischwimmen sehen?«
»Nein.« Sie lachte. »Papa hat gesagt, der ist bestimmt gerade in Südamerika.«
»Australien.«
»Das hab ich auch gesagt. Ich geb dir jetzt Mama. Tschüss.«
»Tschüss.«
»Du willst ausziehen?«, fragte Mutter scharf, sobald sie dran war.
»Nein.«
»Was hat Pia dann da gesagt?«
»Wir haben vorhin über Knolles Bruder geredet«, sagte ich und hoffte, sie würde nicht merken, dass ich log. »Und da hab ich über unsere Zimmer nachgedacht, und dachte, Pia freut sich. Für irgendwann, wenn ich studiere oder so.«
»Oh. Das ist nett.«
Wir wechselten noch ein paar Sätze, dann legte ich auf. Es war schön, dass Pia mich nicht gehen lassen wollte. Trotzdem dachte ich an Maiks platzenden Schädel und fragte mich, ob ich irgendwann auch auf den Gedanken kommen würde, mich umzubringen, nachdrücklicher als eben. Was war, wenn sich der Gedanke einfach im Kopf einnistete, ohne dass man es wollte?
Ich wollte nicht sterben wie Christoph. Ich wollte nicht einsam sein und wollte nicht von innen aufgefressen werden. Nicht von kreisenden Gedanken, nicht von gieriger Leere. Verzweifelt schlug ich mit der rechten Faust gegen den nächsten Stamm. Viermal gegen die borkige Rinde, denn vier war eine gute Zahl. Die Haut an zwei Knöcheln platzte auf, und zwei war die Hälfte von vier, aber was das bedeutete, wusste ich nicht. Sollte ich zehnmal zuschlagen? Es blutete nur leicht. Ich pinkelte an den dämlichen Stamm und ging zurück zu den anderen.
Als ich aus dem Wäldchen trat, war die Familie verschwunden. Selina hielt ihr Handy in der Rechten und trampelte die Blumen um das Kreuz sorgfältig nieder. Sie beugte sich vor und hielt eine einzige gelbe Blume zärtlich mit der Linken aufrecht. Als alle anderen platt waren, drückte sie die eine Richtung Kreuz und ging in die Knie. Mit dem Handy machte sie ein Foto und noch eins von weiter links, eins von weiter rechts, eins von oben, und für das letzte legte sie sich ganz auf den Bauch.
Blume mit Müll war ihr liebstes Motiv gewesen, und damit wäre das Kreuz Müll. Oder es ging um weggeworfene Leben oder darum, dass wir nach dem Tod nichts anderes waren als Müll, verbuddelt in der Erde oder im Meer verklappt. Ich dachte an Christophs Scherz, der Müll repräsentiere ihn und die Blume Selina, und vielleicht hatte sie auch einfach nur daran gedacht.
Sie erhob sich wieder und richtete die anderen Blumen notdürftig auf. Dann kam sie zu uns an den Tisch.
»Was war das jetzt?«, fragte Maik.
»Ein Foto.«
»Ach nee.«
»Sonst noch was?«
»Hast du eben für Christoph gebetet?«
»Ich hab an ihn gedacht.«
»Im Knien?«
»Ich kann nicht mehr sitzen.«
Da es uns allen so ging, blieben wir noch eine Weile und lungerten um die Bänke herum, ohne uns zu setzen. Ein Streifenwagen raste die Landstraße entlang und bremste vor unserem Parkplatz runter. Er blinkte, und dann gab er doch wieder Gas. Lena atmete erleichtert aus.
»Weißt du, an was Christoph geglaubt hat?«, fragte ich Selina, weil es mich wurmte, dass ich vorhin nicht sicher gewesen war. Wir schleppten ihn durch halb Europa, und ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt daran glaubte.
»Er wusste es selbst nicht.« Ein trauriges Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, unscheinbar und gleich wieder verschwunden. »Er wollte verzweifelt an irgendwas glauben, aber als wir zusammenkamen, hatte er längst alle Vorstellung verloren, die man ihm als Kind eingetrichtert hatte. Er hat immer so was gesagt wie: Früher habe ich dies oder das geglaubt , nie: Ich glaube jetzt, dass … Er sagte, es wäre schön, wenn es da draußen etwas geben würde, aber wünschen nutzt nichts, wir sind wohl einfach allein. Keine Götter, keine Aliens. Aber auch keine Teufel, und das ist immerhin tröstlich.«
»Stimmt«, unterbrach ich sie. »Das hat er gesagt: Wo kein Gott, da kein Teufel.«
»Und wenn schon ein Gott, dann keiner aus irgendeiner Religion. Er glaubte nur, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht. Nicht unbedingt in einem Jenseits, vielleicht treiben die toten Seelen unsichtbar mit dem Wind herum, oder sie hängen an dem Ort fest, an dem sie gestorben sind oder begraben wurden, und deshalb gibt es Orte, die einem unheimlich sind. Er hat immer wieder rumüberlegt, weil er nichts wusste. Bestimmt ketten Grabsteine eine Seele fest und verhindern, dass sie frei mit den Winden reist , hat er mal gesagt, und: Seeleute haben es echt besser . Er hat nichts gefunden, was ihn überzeugt hat,
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