Vier minus drei
Schmetterlings in ihrem Kokon erfährt. Ich weiß nicht, ob die Beschreibung wissenschaftlich haltbar ist. Die Metapher, die in der Geschichte verborgen liegt, gefällt mir aber in jedem Fall.
Man erzählt, wenn eine Raupe im Kokon schläft, um ein Schmetterling zu werden, wird ihre gesamte Struktur aufgelöst und von Grund auf umgebaut. Dabei bleibt keine einzige Zelle des Raupenkörpers bestehen. Nach und nach formt sich alles um, das gesamte Zellmaterial wird eingeschmolzen und neu zusammengesetzt.
Nach dem Entpuppen dürfte sich der Schmetterling eigentlich gar nicht daran erinnern, was er früher war, denn keine seiner ursprünglichen Zellen ist noch übrig, wenn er sich aus seinem Kokon befreit. Dennoch sucht der Schmetterling nach seiner Metamorphose schon bald den Platz auf, an dem er als Raupe geschlüpft ist, und er erinnert sich an so manches Erlebnis aus der Zeit vor seiner Verwandlung.
Das Sterben ist in meinen Augen nichts anderes als eine solche Metamorphose. Unsere Gestalt ändert sich, wir schlüpfen in einen anderen Seinszustand, aber das, was wir eigentlich sind, was uns ausmacht, geht nicht verloren.
Auch für mich, die ich am Leben geblieben bin, begann durch den Tod meiner Familie ein Verwandlungsprozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Metamorphose
verläuft langsamer und folgt anderen Gesetzmäßigkeiten als das Sterben. Der Wandel ist dennoch sehr deutlich. Langsam, aber sicher organisiert sich mein Innerstes ebenso um wie mein Leben im Außen. Ist es vielleicht das, was manche Trauerforscher meinen, wenn sie vom Phänomen des Mitsterbens sprechen?
Es gibt ein Lied, das ich etwa ein Jahr vor dem Tod meiner Familie für meine Freundin Sabine geschrieben habe. Sie war damals frisch geschieden und befand sich in einer Art Schwebezustand zwischen ihrem alten Leben, das sie abzuschließen suchte, und einem neuen Leben, das noch nicht so recht Form annehmen wollte.
Das »Lied für Sabine« kam mir ein paar Tage nach dem Seelenfest plötzlich wieder in den Sinn, als ich mit einer Freundin spazieren ging. Ich sang es ihr spontan vor, ohne ersichtlichen Grund. Als der letzte Ton verklungen war, schwiegen wir lange. Schließlich war ich es, die zuerst aussprach, was auf der Hand lag.
»Wie eigenartig, das Lied für Sabine passt jetzt eigentlich genau zu mir.«
Lied für Sabine … und nun auch für mich
Zwischen heut’ und irgendwann,
an einem Tag voll Wolkensonnenschein
auf aner grünen Straßn
zwischen Mittag und April:
Am Wegrand geht a Frau, die kommt
und des »Woher«, des flüstert ihr die Richtung
ein,
sie macht a weite Reise
mit dem »Warum« als nächstes Ziel.
Sonne badet, Regen scheint, es is no weit,
wer Fragen findet, kennt die Antwort, aber no
ned heut’, no ned heut’.
Das Jetzt sucht gestern schon sein’ Raum,
was morgen war, wird bald scho sichtbar
sein,
die Zeit versteht’s, zu warten,
und steht dabei doch niemals still.
Der Tag, der setzt sich langsam hin,
auf an nassen Kieselstein
und er erzählt die Gschichtn,
die das Leben hören will.
Sonne badet, Regen scheint, es is no weit,
wer Fragen findet, kennt die Antwort, aber no
ned heut’, no ned heut’
- no ned heut’.
Es war alles andere als einfach für mich, den Prozess der Verwandlung zu akzeptieren.
Ich hatte mich in einen selbsterschaffenen Kokon zurückgezogen. Dort fühlte ich mich wohl. Doch würde ich
jemals ein Schmetterling werden? Wollte ich es überhaupt?
Mein Leben war so schön gewesen. Und ich mochte mich doch so, wie ich war. Geändert hatte sich ohnehin schon genug – ausreichend für den Rest meines Lebens, so meinte ich.
Um jeden Preis versuchte ich alles, was noch da war, zu erhalten. Die Bausteine meines Lebens erschienen mir vor meinem inneren Auge wie eine Reihe sorgfältig arrangierter Dominosteine. Ein Stein war umgefallen. Der wichtigste, zugegeben. Der erste.
Ich wollte, durfte nicht zulassen, dass andere Steine zu purzeln beginnen würden. Was würde sonst aus mir werden?
Mein Haus im Grünen. Mein Beruf, meine Freunde. Singen, Theater spielen. Im Garten arbeiten. Es war an der Zeit, meine alten Lebensfäden wieder aufzunehmen, und ich wollte es lieber bald tun, bevor sich da draußen zu viel verändern konnte. Plötzlich hatte ich es eilig.
Ich kontaktierte meine Vermieterin und versuchte sie dazu zu überreden, mir das Haus zu verkaufen, in das ich mit Heli und den Kindern erst vor zwei Monaten gezogen war.
Der Obfrau von
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