Vier minus drei
wieder in der Lage sein würde, eigene Schritte zu tun.
Meine Wünsche gingen in Erfüllung, sogar um einiges früher, als es mir lieb war. Schon bald war das Leben meiner Freunde wieder weitgehend normal geworden. Der Tod meiner Familie wurde zur Erinnerung. Zu einer traurigen Geschichte, die man hier und da erzählte. Zu einem Stück Vergangenheit. Das Leben ging weiter wie zuvor, es hatte sich gar nicht so sehr geändert. Und, ja, meine Freunde luden mich ein, das normale Leben mit ihnen zu teilen. Ich war gern gesehen. Willkommen.
Wie gern wäre ich per Anhalter mitgefahren, auf der Autobahn des Alltags. Hätte mich chauffieren lassen, so lange, bis ich die Stelle finden würde, an der ich meinen eigenen, neuen Lebensweg wieder aufnehmen konnte. Doch es wollte nicht so recht klappen. Irgendetwas war verkehrt. Ich war verkehrt, ganz und gar anders als die anderen.
Auf meinen Schultern lastete ein unsichtbarer Rucksack, der mir jeden Schritt beschwerlich machte. Er war voll bepackt mit alten Gewohnheiten, die keinen Sinn mehr machten. Mit Geschichten, die keiner mehr hören wollte. Mit Worten der Liebe, auf die ich keine Antwort mehr erhielt. Ein Rucksack, in dem drei Engel steckten, die, sobald ich sie auspackte und den anderen zeigen wollte, zu Toten wurden.
Der 10. Juni 2008, zehn Uhr vormittags,
im Morgenverkehr
Ich habe einen Termin in einem Vorort von Wien und leiste mir ein Taxi. Die Menschenmengen in den öffentlichen Verkehrsmitteln überfordern mich noch zu sehr. Ich sehne mich nach Stille.
»Wohnen Sie in Wien?«
Nur kein Gespräch.
Ich antworte mit einem knappen »Ja«, auch wenn es nicht der Wahrheit entspricht. Das geht schneller, erfordert keine weitere Antwort.
»Mit Mann?«
Noch einmal versuche ich es mit einer Lüge.
»Ja.«
»Haben Sie Kinder?«
Eine dritte Lüge schaffe ich nicht.
»Meine Kinder sind bei einem Autounfall gestorben«, presse ich mit verkniffenem Mund hervor. Ich hoffe auf ein Oh, das tut mir leid und das Schweigen, das üblicherweise danach einkehrt.
Doch ich werde überrascht.
»Ich weiß, wie es Ihnen geht.«
Aha?
»Sie glauben mir vielleicht nicht, aber ich weiß es. Meine Frau hat auch ein Kind verloren, bei einem Unfall. Vor fünf Jahren. Sie ist psychisch krank, seit damals. Sie sind auch psychisch krank. Glauben Sie mir.«
Was will er nur von mir hören?
»Das tut mir leid, für Sie und Ihre Frau.«
»Glauben Sie mir, von so etwas erholt man sich nie. Man wird psychisch krank, glauben Sie mir.«
Wäre ich psychisch krank, würde ich vielleicht einfach bei der nächsten roten Ampel aussteigen, um mich aus der Affäre zu ziehen. Ich könnte laut zu schreien beginnen. Ich könnte hysterisch werden oder verstummen. Aber ich bin nicht krank, habe all meine Sinne beieinander und bin ein höflicher Mensch obendrein. Einfach nicht zu antworten fände ich grob.
»Wissen Sie, ich habe das Glück, dass ich immer noch die positiven Dinge sehen kann. Vielleicht hilft mir das.«
»Nein, nein. Das hilft nicht. Sie sind psychisch krank, glauben Sie mir.«
Ich wüsste gern, woran man das sieht.
Habe ich etwa Zuckungen? Oder wirke ich zu entspannt? Zu … normal?
Draußen ist Stau. Nachmittagsverkehr. Die Fahrt wird noch lange dauern. Ich habe den Moment längst verpasst, in dem ich das Gespräch hätte beenden können. Der Fahrer ist in seinem Element. Nach zwei Kilometern, für die wir zwanzig Minuten gebraucht haben, weiß er alles über den Unfallhergang, über meinen Rechtsanwalt, über die Fernsehdokumentation, die über mich gemacht wurde, und über die Einladung, in einer Talkshow des ORF über meine Trauerarbeit zu sprechen.
»Das müssen Sie machen, glauben Sie mir!«
»Ich glaube nicht, dass ich das will. Ich will lieber meine Ruhe haben.«
»Sie müssen ins Fernsehen. Sehen Sie, der Bahnübergang war ohne Schranken. Sie müssen in der Öffentlichkeit
sprechen und durchsetzen, dass an jeden Bahnübergang Schranken kommen!«
»Ich glaube nicht, dass speziell das meine Aufgabe ist.«
Immer noch winde ich mich bei jedem Satz. Es gäbe so viel zu diskutieren, aber doch nicht hier, doch nicht mit diesem Mann, der jeden Satz mit »Glauben Sie mir …« unterstreicht!
Der Taxifahrer schaut mir durch den Rückspiegel eindringlich in die Augen. »Glauben Sie mir, Sie müssen das machen. Wenn Sie nicht durchsetzen, dass an alle Bahnübergänge Schranken kommen, dann gibt es noch mehr solche Unfälle, und dann sind Sie schuld daran, dass noch mehr
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