Vier minus drei
unendlich stolz.
Ich höre Stimmen, die näherkommen. Gleich darauf tritt meine Freundin Anna in den Turnsaal, in Begleitung von Maria, Thimos Kindergärtnerin. Sie haben mich gesucht, haben sich Sorgen um mich gemacht.
»Es war schlimm für dich, oder?«, fragt Anna.
Ich nicke. Und versuche zu beschreiben, wie ich mich fühle.
»Ich habe heute zum ersten Mal seit dem Unfall diese schreckliche Lücke gespürt, die meine Familie hinterlassen hat. Hier im Kindergarten scheint alles zu sein wie früher, nur Thimo fehlt. Ich konnte die ganze Zeit nur auf die Lücke schauen, nur an die Lücke denken!
Es ist so, wie wenn in einem Mund ein Zahn fehlt, man sieht nur das schwarze Loch. Wenn ich bei mir zu Hause
bin, mit mir allein, bin ich wie ein einzelner Zahn in einer leeren Mundhöhle. Der einzelne Zahn sieht keine Lücke, er sieht nur sich selbst und ist froh, dass er da ist. Aber ihr, hier im Kindergarten, ihr seid täglich mit dieser Lücke konfrontiert! Vielleicht ist es für euch dadurch sogar schmerzhafter als für mich!«
»Thimo fehlt uns sehr.«
Maria nimmt mich an der Hand und führt mich zu einem Tischchen an der Wand des Gruppenraums.
»Hier brennt jeden Tag eine Kerze für Thimo. An der Wand hängen Bilder von ihm. Die Kinder stehen oft da und schauen sich die Bilder an, immer wieder. Die Auseinandersetzung mit seinem Tod ist Teil unseres Kindergartenalltags geworden, und doch tut es immer noch schrecklich weh.«
Im Kindergarten, an Thimos Geburtstag, begriff ich, dass der stechende, bittere Schmerz der Einsamkeit überall dort lauern würde, wo Heli und die Kinder ihren unverwechselbaren Platz innegehabt hatten. Einen Platz, der plötzlich leer geworden war.
Der Chor, in dem Heli und ich gesungen hatten. Die Bühne im Kindermuseum, auf der wir so oft gemeinsam gestanden haben. Die Feste bei unseren Freunden, Lagerfeuerabende, Gartenpartys, Gesprächsrunden. Der Kindergarten. Die Plaudereien mit Finis Tagesmutter. Das Kinderfußballtraining in unserem Heimatort, Dienstag, nachmittags, siebzehn Uhr…
Bei all diesen Gelegenheiten würde ich der Lücke begegnen. Dem klaffenden Loch, das der Tod in mein Leben gerissen hat.
Heli. Thimo. Fini.
Die Plätze, die sie ausgefüllt hatten, waren vakant. Irgendwann würde sich, zumindest äußerlich, die Lücke schließen. Die Stellen würden neu besetzt werden. Vielleicht schon bald.
Ich jedoch würde allein zurückbleiben, mit einem klaffenden Loch in meinem Herzen, das außer mir keiner mehr spüren würde.
Der 20. Mai 2008
Ein Clownworkshop für Schauspieler und Laien.
Der Kurs beginnt um zehn. Ich bin schon früher gekommen, sitze mit den anderen Teilnehmern beim verabredeten Frühstück im Kursraum. Manche kennen einander schon. Ich kenne nur einen Teilnehmer, er ist gerade in ein Gespräch vertieft. Ich höre dem üblichen Smalltalk zu.
Wer bist du, was machst du?
Gespräche übers Studium, über Theaterträume, über die Zugfahrt nach Graz. Ich schweige und vermeide Augenkontakt. Ich fürchte mich vor Fragen, will meine Geschichte nicht preisgeben. Ich weiß aber auch nichts anderes zu erzählen, habe nichts in meinem Kopf als Engel, Gott, Nahtoderlebnisse und Neulebenserfahrungen, Blümchen, Rehe, Waldspaziergänge. Werde ich jemals wieder teilnehmen können an ganz normalen Unterhaltungen?
Oder bin ich ein sonderbarer Kauz geworden, mit einer Art Behinderung, die mich schwer beeinträchtigt und doch für niemanden sichtbar ist?
Beim Mittagessen nach der ersten Einheit sitze ich neben dem Clownlehrer. Er hat uns gut beobachtet an diesem Vormittag und gibt uns Feedback. Auch mir.
»Du versteckst sehr viel. Ich finde dich sehr verschlossen.«
Scheiße.
Am nächsten Tag beteilige ich mich hier und da am Frühstücksgespräch.
»Was machst du eigentlich beruflich?«
Ich erzähle von meinem Beruf als »Rote Nasen Clowndoctor«.
»Wow, machst du das täglich?«
»Nein, zwei Mal die Woche.«
»Und sonst?«
Tja, und sonst.
Vor Kurzem hatte ich noch zwei Kinder und einen Mann, da war genug zu tun. Jetzt laufe ich zwischen Notar, Wohnungsmakler und Bestattungsinstitut hin und her, dabei wird mir nicht langweilig.
Ich will die Stimmung nicht zerstören.
»Nicht viel«, antworte ich. Und fühle mich unendlich blöd.
»Ich will Teil des ganz normalen Lebens bleiben.«
So war es mein Wunsch gewesen. Ich hatte meine Freunde darum gebeten, mich mit dem Leben zu konfrontieren. Mich ja nicht zu vergessen. Mich mitzuschleppen, bis ich
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