Vier minus drei
Thimos Privatkindergarten erklärte ich, dass ich weiterhin die Buchhaltung des Vereins übernehmen und zu allen Vorstandssitzungen kommen wolle.
Meine Clownkollegen überraschte ich mit dem Wunsch, dass ich schon bald wieder arbeiten würde, und tatsächlich fuhr ich schon Ende April mit ihnen auf eine sechstägige Fortbildung zu einem Clowntrainer.
Am 4. Mai trat ich zu ersten Mal wieder als Clown auf und hatte tatsächlich Spaß dabei. Meine Reflexe funktionierten wunderbar.
Alles bestens.
Oder?
Perspektivenwechsel
Freitag, der 13. Juni 2008
Thimos siebenter Geburtstag. Sommerfest im Kindergarten »Bunte Knöpfe«.
In Thimos Kindergarten wird gefeiert. Anna wird dort sein, Sabine und natürlich auch Nelli.
Als Anna mich fragte, ob ich kommen wollte, musste ich nicht lange überlegen.
Natürlich würde ich kommen. Der Kindergarten war doch ein wichtiger Teil meines Lebens. Nur weil meine Kinder neuerdings unsichtbar waren, brauchte ich ja nicht zu Hause zu bleiben.
Der Dominostein muss stehen bleiben.
Also stehe ich inmitten der Elternschar. Mit einigen Müttern bin ich seit dem Unfall in regelmäßigem Kontakt, sie wissen, wie es mir geht. Wir sprechen angeregt über alles Mögliche. Bloß nicht über das Eine.
Ab und zu kommt jemand auf mich zu, der mich lange nicht gesehen hat, und drückt mir fest die Hand. Einige wenige umarmen mich. Wie gut, dass ich mittlerweile
schon ein wenig Übung darin habe, die unvermeidliche Frage zu beantworten:
Wie es mir geht?
»Danke, es geht.«
»Heute gerade gut.«
»Mal so, mal so.«
Ich bin erleichtert, als Nelli das Triangel schlägt. Sie lädt uns ein, in den Turnsaal zu kommen, wo die Kinder zeigen werden, was sie vorbereitet haben. Ich setze mich in die letzte Reihe.
Eine Geschichte wird erzählt, die Kinder untermalen den Text mit Musik. Die Kleinen spielen mit Rasseln, Glocken, Klanghölzern. Linda, Thimos beste Freundin, darf das Becken schlagen. Zwei Buben spielen stolz einen Rhythmus auf dem Xylophon. Eine Aufgabe für Große! Die beiden werden nächstes Jahr in die Schule kommen.
Hätte Thimo auch das Xylophon spielen dürfen? Oh, wie stolz wäre er gewesen!
Aus meinem Auge kullert eine erste Träne.
Die Geschichte ist aus, die Kinder nehmen Aufstellung vor der Wand. Mit verteilten Rollen tragen sie ein Gedicht vor.
»Der Löwe reckt die Löwenbrust und ruft: ›Ich habe Lust!‹
›Lust wozu?‹, fragt die Kuh.
›Zum Verreisen?‹, fragen die Meisen.
›Oder zum Tanzen?‹, fragen die Wanzen.«
Ich kenne dieses Gedicht. Thimo hat es oft zu Hause vor sich hin gemurmelt, beim Spielen, in der Badewanne. Vortragen wollte er es mir nie, so etwas hat ihn immer verlegen gemacht. Einen bestimmten Satz hat er jedoch immer wieder laut geübt, sogar vor mir.
»›Aber wo?‹, fragt der Floh.«
Halt! Stopp!
Da war er – Thimos Satz!
Dieser Satz gehört Thimo und nicht Leonie, merkt das denn keiner?!
Ich erstarre, innen wie außen. Höre nicht mehr zu. Thimos fröhliche Stimme klingt in meinem Kopf, sie wiederholt den ständig gleichen Satz.
Aber wo?, fragt der Floh. Aber wo?, fragt der Floh .
Der helle Klang seiner Stimme. Die Musik, die in seiner Sprache lag.
Nie wieder, nie wieder werde ich sie hören!
Die Kinder haben ihr Gedicht beendet und bilden nun wieder einen Sitzkreis. Ein Lied wird angestimmt. Ein Lied, das ich allzu gut kenne.
Wie schön hat Thimo es gesungen! Wie schön hat Thimo überhaupt gesungen, kein Kind singt so schön wie Thimo!
Ich sitze immer noch regungslos da, starre auf die Kinder, die alle nicht so süß, so wundervoll, so begabt sind wie mein lieber Schatz. Ich bräuchte ein Taschentuch, habe aber keines. Die Tränen rinnen mit dem Schleim aus
meiner Nase um die Wette. Endlich bemerkt es meine Sitznachbarin und reicht mir eine Serviette. Ich schnäuze mich, doch davon wird nichts besser. Überhaupt nichts.
Als die Vorführung zu Ende ist, schließe ich mich dem Strom der Eltern an und gehe mit in den Garten.
Nur nicht auffallen! Nur nicht reden!
Ich klammere mich an Sabine, sie kennt mich gut genug, um nicht zu fragen, was los ist. Nach einem Glas Orangensaft flüchte ich aufs Klo. Im Kindergarten ist es still. Alle sind im Garten. Ich gehe in den leeren Turnsaal und setze mich noch einmal auf meinen Platz in der letzten Reihe.
Die Stille tut mir gut. Ich meine, Thimos Gegenwart zu spüren. Mit mir allein darf er nun seine Sätze vorsagen, sein Lied singen. Für mich. Ich bin stolz auf ihn,
Weitere Kostenlose Bücher