Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Blatter
Vom Netzwerk:
Knie, und sein eigener Kopf wollte ihm unangemessen scheinen, er war zu klein, viel zu klein für diese vielschichtige Welt. Tom trank eine Flasche Wasser in großen Schlucken leer. Trotz der eingebauten Kühlung war er schweißgebadet. Dann ging er, vorbei am Stadthaus, zur Straße, wo er sein Auto abgestellt hatte. Den großen Kopf trug er vor der Brust wie einen Medizinball. Tom genoss es, ein Kostümläufer zu sein. Ohne sich bemühen zu müssen, bloß weil er ein Maskottchen war, wirkte er liebenswürdig. Das Feld, auf dem er zu agieren hatte, war überschaubar. Keine Fettnäpfchen. Sobald er das Kostüm überstreifte und den Kopf aufsetzte, verlor er, ob er nun ein Clown oder eine Katze war, die Angst, nirgendwo dazuzugehören. Er entdeckte sich als Kostümläufer in den Schaufenstern, verdutzt darüber, dass er sich immer unter Menschen befand. Der Job machte ihn sichtbar. Er tröstete ein Kind, dem die Schnur des Luftballons aus der Hand geglitten war. Der Clown gehörte allen. Viele Herzen flogen ihm zu. Niemand rätselte etwas in ein Maskottchen hinein, und wenn er seinen Job ausübte, glückte es ihm, dem rosigen statt dem dunklen Szenario anzuhängen, er würde gewiss nicht auf dem Friedhof der erfolglosen Dichter landen. Als Kostümläufer erforschte Tom keine Sekunde lang seine Seele, seine wacklige Position. Es war das Beste an dem Job.
    Sein blauer Lancia Delta stand in einer Nebenstraße, eine Schönheit. Tom platzierte den Kopf des Clowns samt Halskrause sorgfältig im Kofferraum. Er manövrierte vorsichtig aus dem knapp bemessenen Parkplatz heraus. In der Stadt war wenig Verkehr. Tom fuhr hinter dem Bahnhof den Sihl-Quai hinunter und hielt bei der Tankstelle an. Steckte den Zapfhahn ins Auffüllloch und drückte den Abzug.
    Als das Benzin durch den Schlauch strömte, während der betäubende Duft ihm entgegenschlug und die Zahlen im Fenster an der Säule rasend schnell addiert wurden, kam ihm Felix in den Sinn. Er war mit Felix, dem Sohn seiner Freundin, verabredet. Tom hatte dem Jungen versprochen, mit ihm schwimmen zu gehen. Sie wollten mit dem alten Kahn auf den See hinausrudern.
    Felix wartete beim Fahrradständer im kleinen Vorgarten, wie immer mit den Daumen beschäftigt, den Blick auf dem Display, Stöpsel in den Ohren, in Gedanken irgendwo. Seit einiger Zeit beschäftigten ihn Tiere. Er liebte sie. Er las Tiergeschichten, ereiferte sich für Tierschicksale, hatte in der Schule provoziert mit dem Bekenntnis, er verzichte auf Fleisch, weil er ebenso gut wie ein Kälbchen auch ein Baby essen könnte.
    Tom hupte, um den Jungen aus seiner Abwesenheit zurückzurufen. Eigentlich hätte Tom gern noch geduscht und sich umgezogen. Aber es war nicht dringend, der See wartete ja auf ihn. Tom hielt an und stieg aus. Felix grinste und klatschte ihn ab, das Warten hatte ihm nichts ausgemacht.

EIN SCHMERZHAFT HELLER NACHMITTAG . Tom und Felix verließen die Stadtautobahn und folgten ein paar Kilometer der glühenden Landstraße. Die Apfelbäume waren schwer behängt, und der Mais stand hoch. Sie glitten mit dem neuem Lancia Delta in den Wald hinein. Das Licht wechselte ganz plötzlich. Tom wünschte, in ein Dunkelgrün einzutauchen, in dem man sich verirren und verlieren konnte.
    Leider war er ortskundig.
    Die Straße durch den Wald befand sich in schlechtem Zustand; überall Löcher und Risse, aus denen Gras wuchs und eine magere Blüte, ein lilafarbenes Kraut. Die Reifen knirschten auf dem Belag. Oben, in den Wipfeln, beschichtete der Glanz der Sonne kräftige Blätter mit Gold. Das Licht sickerte nicht bis auf den Boden herab, unten lagen nur stille Schatten, nicht die leiseste Spur deutete auf die Bläue hin, den immensen Himmel über dem Wald; er war hier ohne Belang.
    Felix saß stumm neben ihm, er war vierzehn, ein Schlacks. Die starken Gläser der Brille vergrößerten seine Augen, die bernsteinfarbenen Einsprengsel in der braunen Iris sah man nur, solange er die Brille trug. Toms Vater besuchte er gern, sein Haus am See. Felix fand Rennrudern bizarr, aber es war nun einmal Ivos Welt. Und wenn Ivos Freundin da war, Nadja, die mit dem Liegestuhl dem Schatten folgte, so dass ihr jeweiliger Standort die Zeit wie eine Sonnenuhr ansagte, gab es bestimmt auch ausreichend Essen.
    Felix fuhr vor allem wegen eines alten Kahns an den See. Toms Vater hatte ihn im Winter im Bootshaus aufgebockt, um die Farbe abzulaugen und das Boot frisch zu streichen. Er hatte sich für ein Türkis entschieden und für die

Weitere Kostenlose Bücher