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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Blatter
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mit einer Baumnuss-Salbe, die ansehnliche Muskulatur war steinhart. Leo hatte immer noch breite Schultern, aber inzwischen auch einen breiten Hintern; folglich war er nicht mehr ganz so schnell.
    Gierig trank Leo kalte Milch aus der Packung und schaltete dann den Fernseher ein. Sobald der Fernseher lief, war die Bude weniger leer. Leo hasste diese Anfälle von Einsamkeit und seine zunehmende Verwilderung. Das frühere Bedürfnis, andere Menschen, zumindest eine Frau um sich zu haben, war jedoch erloschen.
    Hass fiel ihm leichter als Liebe.
    Alice war die Ausnahme, er vermisste sie schrecklich.
    Seine einzige Liebe.
    Ansonsten war die Liebe etwas viel zu Kompliziertes, ein Rätsel. Hass war einfach. Der Hass hatte eine ganz klare Richtung.
    Missmutig hockte er vor dem Fernseher, einhundertzwölf Kilogramm nun schmerzendes Fleisch. Der Fettanteil nahm zu, aber da war auch noch erstaunlich viel intakte Muskelmasse vorhanden. Leo Zimny war ein Brocken, kein Sack. Er trank die Milch aus, zerknüllte die Packung mit einer Hand, mit seiner Pranke. Er starrte auf den Bildschirm. Die Handlung ergab keinen Sinn, und alle redeten durcheinander. Viel zu laut. Er zappte das weg. Die Balkontür stand offen, die Aussicht interessierte ihn nicht mehr, die Baumaschinen erzeugten Lärm. Allmählich begannen die Tabletten zu wirken, er konnte sich wieder besser bewegen.
    Im Fernsehen behauptete ein Klugscheißer, der Urknall sei nicht der Anfang des Universums gewesen.
    Eine Tante fragte: Also, es muss schon eine Phase… oder etwas Ähnliches vor dem Urknall gegeben haben?
    Der Klugscheißer antwortete: Ja, ja, als Zeit und Raum noch so ineinander gekrümmt waren, dass beide nicht existierten.
    Leo wandte sich vom Fernsehgerät ab. Wann genau und wie das Universum begonnen hatte, wann und wie es einmal endete oder eben nicht endete, war ihm egal. Aber die Sache mit dem Urknall hatte auch etwas Gutes: Wenn alles mit einem Knall angefangen hatte, konnte es auch mit einem Knall wieder beendet werden.
    Buddha war der Auffassung gewesen, es gebe das nicht, einen einzigen Anfang. Er hatte recht. In Leos Lebensgeschichte fehlten eindeutige Anfänge. Abgesehen vom Startschuss, den sein Vater dummerweise abgegeben hatte. Es zog sich auch kein roter Faden durch Leos Leben. Der Zorn, der Zorn am ehesten.
    Die Weißglut.
    Der Urknall hatte etwas Furchterregendes und passte zu einem zornigen Gott, der das ganze Universum in einem Wutausbruch erschaffen hatte und es im Jähzorn auch wieder vernichten konnte.
    Genua war der Wendepunkt. Das blödsinnige Radrennen, der ahnungslose Fotograf: Leo stand da, stocksteif, und die Erinnerung kam wie der Stich eines Messers, den man nicht parieren konnte Es war nicht seine Absicht gewesen, auf Paul Fontana zu stoßen. Er hatte ihn nicht gesucht. Doch nach der Kollision war die Vergangenheit ungeschönt durch seinen Kopf gezogen. Eine feindliche Armee. Leo hatte ihr viele Jahre den Rücken gekehrt, sogar mit der Illusion gelebt, sie in Thailand ausgemerzt zu haben. Er hatte Buddhas erhabenen Fußabdruck betrachtet und sich mit einem scharfen Schnitt von allem Bisherigen abgenabelt. Von der ganzen elenden Scheiße, um seinen eigenen Weg zu gehen. Und Fußstapfen zu hinterlassen. Die Vergangenheit zählt nicht mehr, hatte er vollmundig behauptet. Aber das war falsch. Die Vergangenheit war nicht erkaltete Asche, sie bildete eine Glut; und jetzt hatte jemand, irgendein Vollidiot, in diese Glut geblasen.
    Er hatte Paul Fontana im Auge behalten. Als er im Hotel verschwunden war, hatte Leo eine Trattoria aufgesucht und dort gegessen und viel getrunken und zu viel gegrübelt. Versunken in seine Gedanken war er durch die Gassen gezogen. Er würde Paul Fontana stellen, das stand außer Frage. Bei der Konfrontation sah er sich mit gezücktem Messer. Er war kampferprobt, er würde ihn fertigmachen. Er war stark. Es war ihm jetzt vollkommen klar, warum er all die Jahre die schwierigen Lektionen mit dem scharfen Messer geübt hatte.
    Nacht über Genua. Leo hatte sich auf die Ufermauer gesetzt. Vor ihm lagen vertäute Schiffe. Er war hellwach gewesen. Es regte ihn an, in der Nähe des Aquariums zu sitzen, in dem Haie schwammen. Ob sie wohl schliefen? Das Kampfsystem, das Leo in Thailand gelernt hatte, basierte geometrisch auf Dreiecken und Kreisen wie das Gebiss der Haie und die Bewegung der Sterne am Himmel.
    Im Hafenbecken glitzerten nur wenige Lichter, es stank nach Fisch und Teer und Urin, Wasser platschte gegen die

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