Vier Tage im August
durch den Tränenschleier hindurch, wieder freie Sicht verschaffte. Sie hatte sogar ein ganzes Kapitel von Anna Karenina gelesen und war in die untergegangene Welt der Kutschenfahrten und Petroleumlampen abgetaucht. Sie wollte besonnen sein, eine gradlinige Sportlerin. Doch ihre Eltern rührten sie. Emily schniefte. So war das nicht gedacht gewesen. Statt ins Camp zu fahren, von dem sie sich Konzentration und die Perfektionierung ihrer Sprünge versprochen hatte, war sie zurück an einen chaotischen Ort gereist.
Emily saß im Haus am See auf dem breiten Fensterbrett ihres Zimmers. Aus dem Vorrat von Ivos Freundin Nadja hatte sie eine Flasche Prosecco abgestaubt und mit nach oben genommen. Sie trank kleine Schlucke aus dem langstieligen Glas. Es schmeckte ihr gut, sie würde die Wirkung des ungewohnten Alkohols bald spüren, aber dies suchte sie ja gerade, die stille Betäubung, Nebel im Kopf.
Sie hatte sich auf der sicheren Seite gewähnt, nun war ihre Welt kaputt gemacht worden, zerrissen wie das Spinnennetz unter dem Dachvorsprung, das sie vom Fenster aus betrachtete. Das Familienleben, auch wenn es nervte und manchmal aufreibend war, hatte Emily Halt geboten. Die Wohnung, das Elternhaus, war ein fest gefügtes Fundament gewesen. Nun hatte sich die glückliche Familie über Nacht in eine Familie verwandelt, die tatsächlich auf ihre ganz eigene Weise unglücklich war. Entsprechend dem ersten Satz des Romans, den Tom ihr geschenkt hatte und der sie jetzt von der eigenen Misere ablenkte. Das Buch taugte auch für Balanceübungen, sie hatte es sich auf den Kopf gelegt und war zum Spaß der anderen Springerinnen vor dem Abflug nach Hamburg damit auf dem Gate herumspaziert.
Gestern? In einer fernen Zeit.
Sie nahm das angelesene Buch und eine verbotene Tafel Schokolade aus der Sporttasche. Anna Karenina war auch eine Nervensäge, die Unglück auf sich zog, Das Maßlose ihrer Liebesforderungen erinnerte Emily an Borem. War das nicht krankhaft, wie er ihr nachstellte? Er hatte überhaupt nichts begriffen. Das war kein Spiel, es ging hier ums Ganze. Trotzdem hätte sie nicht derart außer sich geraten dürfen, müsste sie mit Druck besser umgehen, souverän, sie hätte das alles an sich abperlen lassen sollen. Statt den Chinesinnen näher zu rücken, war Emily einen Schritt zurückgefallen.
Über dem See ballten sich Wolken zusammen, fern am Himmel zuckten Blitze auf, kündigten das Gewitter an. Die Bäume sogen sich mit Dunkelheit voll. Und im Hundezwinger brannte ein schwaches Licht. Im Zimmer selbst war jeder Gegenstand, jedes Buch, jede CD , jedes Kleidungsstück, alles, was an der Wand hing und der Schrank barg, etwas Gerettetes. Etwas, das trotz der Katastrophe erhalten geblieben war. Ein Wohnungsbrand, dachte Emily, wäre weniger schlimm gewesen. Da würde sie vor einem Haufen Asche stehen. Immerhin könnte sie dann im Schutt herumstochern, zornig aufheulen und verkohlte Teile identifizieren. Sie wüsste wenigstens, was mit ihren Sachen geschehen war.
Emily ärgerte sich über ihr Geschick, betrauerte die Schäden und Verluste und, ja, die Misshandlung ihrer Familie. Sie dachte an ihren Vater mit den unbrauchbaren Händen, an ihre Mutter.
Noch eine Katastrophe, hatte ihr Tom auf dem Flughafen eröffnet, die Wohnung ist ausgeraubt worden.
Was?
Dort kannst du nur noch Luftgitarre spielen.
Emily hatte das nicht glauben wollen.
Tom schilderte, wie er zunächst von einem Irrtum ausgegangen war, von einer Verwechslung. Er war bestrebt, die trostlose Lage eher zu beschönigen, auf keinen Fall wollte er alles noch aufbauschen.
Möchtest du dir das ansehen?
Nein, hatte sie erklärt.
Sie schluckte, ihr Speichel war säuerlich, ihr war übel.
Die Katze, was ist mit ihr?
Sie versteckt sich in meinem Schreibzimmer, sagte Tom, meist kriecht sie unter den Bücherschrank und lässt sich nicht hervorlocken.
Die ersten Tropfen fielen. Sie klatschten in den See und auf das Dach des Bootshauses. Die geräumigen Kronen verstärkten das Geräusch des Regens, der auf die Blätter prasselte.
Die Ballung unglücklicher Ereignisse führte Emily zum komplizierten Schluss, hier könnte für einmal das Schicksal gewirkt haben; eine fremde Hand hatte Gift in ihr Leben geträufelt. Sie kam ins Grübeln. Aber als Sportlerin musste Emily auch schwarzen Tagen eine positive Seite abgewinnen. Immerhin hätte dieses Schicksal sie dann mit einem heftigen Stoß auf den richtigen Weg gebracht und sie in die Richtung gedrängt, in die
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