Vier Tage im August
glaubte, seine Blicke auf der Haut zu spüren.
Sie begann mit den Aufwärmübungen.
Ging den Sprung in Superzeitlupe durch.
Zehn Meter, in weniger als einer Sekunde. Sie musste die Zeit dehnen, um in dieser Spanne alle vorgeschriebenen Elemente unterzubringen, eine Art Looping oder Sturzflug, die sie, wenn sie die Augen schloss, als leuchtende Figur in einem dunklen Raum sah.
Nervös stand sie auf der Plattform des Turms, tief unten lag das Sprungbecken, spiegelglattes, blaues Wasser, wie ein Auge, in dessen Pupille sie eintauchen musste.
Sie sprang.
Das Timing klappte nicht, Emily war in jeder Phase eine Spur zu spät. Die Verzögerung wie in einem synchronisierten Film, die Wörter stimmten nicht ganz mit den Bewegungen der Lippen überein. Der Einstich ins Wasser missglückte und war schmerzhaft.
TOM UND SEIN VATER saßen jetzt allein auf dem Steg. Beide hielten sich zurück, keiner wollte einen falschen Ton anschlagen. Ivo war die Situation nicht ganz geheuer, als hätte er Angst vor Enthüllungen, er fühlte sich, und dies war neu für ihn, von seinem Sohn in die Mangel genommen. Als Tom ihm von Paul und Iris berichtete, tat er so, als würde ihr Leid ihn eher kaltlassen. Tom fiel auf, dass Ivo Schuhe und Socken ausgezogen hatte, nicht nur Toms Füße, auch die Füße des Vaters baumelten über dem Wasser. Tom bemerkte die blauen Venen und feinen Besenreiser unter Ivos Knöcheln. Der Vater war gealtert. Von den Mundwinkeln zogen sich Falten wie tiefe Einkerbungen nach unten. Die Gesten waren nicht mehr so sicher wie früher. Ivo hatte sich den Anliegen seines Sohnes nicht verschließen wollen, aber gefangen in den eigenen Verstrickungen fand er keine Worte. Und sprach lieber vom aufkommenden Unwetter, meinte, falls das Gewitter den See in einer halben Stunde nicht erreichte, zöge es vorbei, würde es sie verschonen.
Morgen besuche ich Paul, kommst du mit, fragte Tom.
Sag ihm Grüße, sagte Ivo, ich wünsche gute Besserung.
Ist das alles?
Um vor dem Gewitter nach Hause zu kommen, beschloss Tom, aufzubrechen. Seit Emily zum Zwinger gegangen war, schleppte sich das Gespräch dahin, sein Vater war nie besonders mitteilsam gewesen und als Zuhörer unbegabt; man wusste nie, wo er in Gedanken weilte. Trotzdem fühlte Tom sich ihm näher als jemals in den letzten Jahren.
Ivo hatte keine Lust, eine Sache, die nicht mehr zu ändern war, immer wieder durchzukauen, als stehe alles weiterhin offen, als sei alles noch möglich, ja möglicherweise noch zu verhindern. Die Schlacht war geschlagen. Die Verheerungen des Sturms gehörten der Vergangenheit an, sobald der Himmel wieder aufklarte. Vollendete Tatsachen. Man sollte mit dem Weitermachen beginnen. Wäre da nur nicht die anhaltende Mutlosigkeit. Ihm fehlte der Biss. Wenn Ivo Blume sich zu schwach fühlte, um eine Entscheidung zu treffen, fror seine Miene ein. Niemand sollte an der Fassade ablesen, was dahinter vorging. Tom würde die eisige Miene seines Vaters gern auftauen, wenn er nur wüsste, wie, mit welchen Mitteln. Jetzt löste Ivo das Problem selbst, er lächelte.
Felix ist ein richtig guter Junge.
Ja, und Jara eine richtig tolle Frau.
Du bist glücklich mit ihr?
Er stieß seinem Vater den Ellenbogen in die Seite.
Ich sollte jetzt los, ich habe noch einen Auftritt.
Tom war, wie Jara auch, heute zum Spätdienst eingeteilt. Sie fuhr Streife, er musste den Clown spielen. Die Polizistin durchkämmte Wohnviertel, wachsam und bereit einzugreifen, falls besondere Vorkommnisse sie zum Einsatz riefen. Der Clown sollte Flyer für das am späten Abend beginnende Konzert einer jungen Band verteilen. Eine Liedermacherin, die ihre Balladen selbst schrieb und vortrug, trat in einer Kneipe auf. Er hörte sie gern singen.
Auf dem Weg zurück zu seinem Auto, das vor dem Haus parkte, sah er, dass Emily und Felix eng aneinandergeschmiegt im Zwinger saßen, im Kies unter dem Vordach, den Rücken gegen die Mauer gelehnt. Sie lehnte ihr Gesicht an seinen Hals, seine Nase steckte in ihrem Haar. Tom blieb einen Augenblick stehen. Der Grund für die romantische Anwandlung der Teenager entzog sich ihm, vielleicht war die atmosphärische Spannung auf sie übergesprungen, und ob die beiden im Halbdunkel der Hundebehausung miteinander knutschten, wo ihre Hände lagen, wollte er gar nicht wissen.
AUF DEM HEIMFLUG HATTE EMILY eine Technik des mentalen Trainings genutzt und ein Bild heraufbeschworen, eine Art Scheibenwischer, der die Gefühlsüberflutung bewältigte und ihr,
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