Vier Tage im August
aufzubrechen sie noch gezögert hatte. Emily war aus ihrem Zimmer, dem ehemaligen Kinderzimmer, aus ihrer Mädchenbude eigentlich längst herausgewachsen… das Zimmer war ihr zuvorgekommen, nicht Emily hatte sich für das Weggehen entschieden, ihr Zimmer war selbst verschwunden. Das Bett, in dem sie ein paar Tausend Nächte allein und ein gutes Dutzend mit Borem geschlafen, der Tisch, an dem sie gelesen und ihre Hausaufgaben erledigt hatte, der Schrank mit den Klamotten… verschwunden die Lampen, der Spiegel, ihre Sportgeräte und viele Sammelstücke und anderer Kram aus ihrem bisherigen Leben. Das Zimmer war nur noch eine Hülle. Alle Stücke besaß sie nur mehr als Erinnerung. Der Wandel hätte nicht heftiger ausfallen, der Einschnitt hätte nicht tiefer sein können.
Der kreiselnde Geist in ihrem Kopf war eindeutig das Werk des Proseccos, und die Schokolade war aufgegessen. Das Balanceboard würde Emily nun abwerfen. Aber morgen war ein neuer Tag, und als betrachtete sie ein Video, eine Nahaufnahme in Zeitlupe, sah Emily sich auf der Plattform stehen. Mit einem perfekten Sprung würde ihr der Anschluss wieder gelingen.
TOM HATTE KEINE LUST , nach Hause zu fahren, wo nur die verstörte Katze auf ihn wartete, die nicht fressen wollte und ihn anfauchte. Er hatte sich am See verabschiedet, auch weil er mit seinem Vater nicht weiterkam und keinen Streit heraufbeschwören wollte. Er hatte jetzt Zeit, er könnte sie nutzen, fürchtete aber, ein Stapel weißer Blätter, ein leerer Bildschirm, auf dem der Cursor tickte, seine Notizbücher… das alles würde ihn hemmen, ihn hindern. Tom liebte sein Arbeitszimmer, litt aber unter einer gelegentlichen Schwellenangst. Der Besuch einer Bar kostete ihn nie Überwindung. Heute fiel es ihm besonders leicht, sich für den freieren Weg zu entscheiden. Sein Auftritt als Clown fand erst in zwei Stunden statt, eine Bar drängte sich zur Überbrückung geradezu auf.
Kaum hatte er das Haus am See verlassen, platzte der Regen auf die Frontscheibe. Tom schaltete die Scheibenwischer ein. Als er den Parkplatz ansteuerte, regnete es kräftig. Er stellte den Lancia ab und rannte vom Auto zum Eingang. Draußen und Drinnen waren seltsam scharf voneinander getrennt. Warme Gelbtöne, kaltes Grün. Es fiel einem nicht schwer, sich zwei Welten mit ganz unterschiedlichen Programmen einzureden. Schossen Blitze über den Himmel, schaute man von der Bar aus durch die Fenster auf ein überhelles Zielfeld.
Tom setzte sich. Er wischte mit der Hand über sein Gesicht und fuhr prüfend durch sein Haar, er war bei dem Spurt nicht allzu nass geworden. Die Flecken auf dem Hemd trockneten rasch ab, und Regen im Gesicht, besonders warmen Regen, mochte er eigentlich ganz gern.
Ein paar wenige Gäste saßen am Tresen und an kleinen Tischen. Die Getränke hatten Signalfarben.
Der Fernseher lief.
Nach Besuchen bei seinem Vater war Tom schon oft in dieser Bar gelandet, sie war eine Zwischenstation auf dem Heimweg, eine Umschaltstelle. Er blickte durch ein breites Fenster ins Freie, saß auf der sicheren Seite, während sich auf der anderen Seite die Sintflut wiederholte. Trotzdem galten Regeln. Wenn Tom mit dem Auto unterwegs war, hatte er sich an Jaras Alkoholverbot zu halten. Er hatte geschworen, nichts zu trinken, wenn er fuhr.
Es ist eine Prüfung, es ist eine Versuchung, dachte Tom und bestellte ein alkoholfreies Bier. Auf dem Bildschirm des Fernsehers war eine Uhr zu sehen, der vorrückende Sekundenzeiger schloss den Kreis. Mit ihrem Logo und Sound begann die Tagesschau .
Katastrophengebiete, Wirtschaftskrise, Kriegsschauplätze. Ein Staatsoberhaupt erörterte die Lage… danach erschien zu Toms Überraschung ein ihm vertrautes Gesicht auf dem Bildschirm, und die Nachrichtensprecherin sagte mit neutraler Stimme:
Elmar Brink, die Ruderlegende, ist tot.
Tom nahm einen Schluck von seinem alkoholfreien Bier, sah Brinks eingeblendetes Porträt, hörte einen Reporter den Filmausschnitt eines glorreichen Ruderwettkampfs kommentieren, ihm war trotz der starren Unmissverständlichkeit der Information, als werde ein Kaleidoskop geschüttelt. Bestürzt tastete er nach dem Handy, hob zugleich die Hand, um einen Whisky zu bestellen. Er wählte die Nummer von Ivo. Wartete. Es dauerte einige Sekunden, bis er realisierte, dass sein Vater mit jemandem sprach und das schnell sich wiederholende Signal genau dies bezeugte.
Die Nachrichtensendung war zu Ende, und in der Bar wies nichts darauf hin, dass sich alles
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