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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Blatter
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weil sie größer als ihr Freund war, Tom weniger gut erreichte als sie, seine Mutter. Auch Jara hätte dann unter der Unerreichbarkeit ihres Mannes zu leiden. Iris glaubte, einen direkten Zugang zu Tom zu besitzen. Es hatte vielleicht etwas mit der Nabelschnur zu tun. Das war ihre Sicht. Ihr Sohn wälzte ähnliche Probleme und zog ebenso versponnene Schlüsse wie sie.
    Iris ging entschlossen zu Toms Tisch. Er hatte sie noch nicht bemerkt, war wieder in Notizen versunken.
    Iris Herz hämmerte. Der Mörder könnte sich hierher wenden, Paul war keineswegs in Sicherheit, der Mörder könnte auch zu Ivo zurückkehren, und falls diese Befürchtungen zusammenpassten, konnte der vierte Mann im Boot ebenfalls in Bedrängnis geraten, René Spring, sie sollte ihn warnen. Iris musste reden, reden, das Schweigen machte ihr die Brust eng, und sie wusste, dass sie ihre Sorgen nur Tom anvertrauen konnte. Er verstand sie, der Sohn hörte ihr bereitwillig zu, wenn sie erzählte, wiegelte sie nicht ab, falls sie stockte und nicht weiterwusste. Sie durfte stammeln. Sie hatten so viel Gemeinsames. Tom verlangte keine Beschönigungen. Er würde ihre Warnung ernst nehmen.
    Sie legte Tom die Hand auf die Schulter, setzte sich.
    Schön, dass du kommst, sagte er und steckte das Notizbuch ein.
    Die Meisterschaft auf dem Rotsee ist erfolgreich verlaufen, nahm sie die wegen Pauls abruptem Abgang unterbrochene Geschichte gleich wieder auf. Doch die Siegesfeier hatte ein schlimmes Ende genommen.
    Sie war allen zum Verhängnis geworden, die Feier kippte, als die vier Männer in ihrem Jubel Alice Braun ins Wasser warfen. Auf ein Zeichen von Elmar Brink packten sie ihre Steuerfrau. Ein ungleicher Kampf, eher ein Gerangel, ein Spiel. Alice Braun wusste, was ihr bevorstand. Sie bog den Kopf zurück. Acht Männerhände griffen nach ihr. Die Steuerfrau zappelte, die Männer bekamen ihre Gelenke dennoch zu fassen. An den Händen, an den Füßen hoben sie die zierliche Frau hoch. Nun hing sie zwischen den Männern und wurde über dem Steg hin und her geschaukelt. Sie feixte noch, bäumte sich auf, ergab sich und schickte sich ins Unabwendbare. Es musste geschehen. Alice hatte sich nicht ernsthaft zur Wehr gesetzt, war mit der Prozedur einverstanden, mit dem Brauch, es war nicht das erste Mal, dass sie nach einem Sieg ins Wasser geworfen wurde, sie war nun einmal die Steuerfrau, Elmar Brink hatte recht.
    Mit dem Hubschrauber war Alice Braun ins Krankenhaus geflogen worden. Alles hatte sich innerhalb einer Sekunde vollkommen verändert. Sie kehrte nie mehr in ihr altes Leben zurück, und in ihrem neuen Leben war sie eine Frau im Rollstuhl.
    Ein Unfall, ein Unglück, eine böse Laune des Schicksals.
    Ein allzu dramatischer Film, in den man unversehens geraten war, ein verstörender Film, den man niemals hatte sehen wollen, dessen düstere Bilder gefälligst rasch zu verblassen hatten.
    Niemand wies den vier Männern die Schuld zu.
    Doch sie trennten sich, Brink, Fontana, Blume und Spring gaben das hoffnungsträchtige Boot auf und mieden einander fortan, um nicht über das Unglück sprechen zu müssen, über das Geschehen, das ihre Pläne zunichtegemacht hatte. Jeder der vier Ruderer quälte sich allein mit seinem Gewissen ab. Doch Vergessen und Erinnern, das wusste Iris, verhielten sich wie Ebbe und Flut.

IM KOSTÜM DES CLOWNS , den reparierten Kopf auf den Knien haltend, ließ Tom den Anpfiff seines Chefs über sich ergehen.
    Es tut mir leid, sagte Tom.
    Er klang kleinlaut und einsichtig. Jede andere Tonart hätte der Chef als unangemessen empfunden.
    Und jetzt geh.
    Tom, den Clownskopf wieder aufgesetzt, fuhr im Warenhaus Jelmoli mit der Rolltreppe in die Abteilung für Junge Mode . Er hatte dort mit den Kandidatinnen einer Misswahl einen Fototermin. Zur Belustigung des Publikums musste der Clown sich inmitten schöner Frauen präsentieren. Nun wartete er in einem schlauchartigen Zimmer, das den Frauen als Garderobe diente, auf seinen Auftritt.
    Alle waren umwerfend. Schönheiten, kein Zweifel, sie bewältigten den Laufsteg traumwandlerisch, ihre unendlich langen Beine waren mit Gelenken aus Gummi ausgestattet, aber was die Kandidatinnen voneinander unterschied, war schwer zu beschreiben. Ihre individuellen Merkmale blieben ihm verborgen, wie bei einem Rudel Rehe, die auf den ersten Blick auch alle gleich aussahen, oder wie bei einer Schar munterer Spatzen. Ja, die jungen Frauen hörten auf verschiedene Vornamen. Haare, Augen, Brüste, Po dienten ihnen

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