Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
bedienen und all das tun, was so schwer für dich ist. Du bist als Teil unserer familiären Gemeinschaft willkommen, aber wir wollen deine Bedürfnisse nicht mehr unseren eigenen überordnen, und wir wollen, dass du dich am täglichen Familienleben beteiligst. Du bist frei, dein Leben so zu führen, wie du es willst, aber du musst es selbst finanzieren.«
Sie müssen, mit anderen Worten, die Verantwortung für sich selbst übernehmen – für Ihre Bedürfnisse, Werte, Grenzen und Irrtümer –, bevor Sie erwarten können, dass Ihr Sohn die Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt. So einfach und so grausam ist das. Und es tut mir in der Seele weh, das zu schreiben, weil ich weiß, wie viel Liebe Sie beide investiert haben und wie schwierig es ist, die Art, in der wir unsere Liebe zum Ausdruck bringen, in der Praxis zu ändern. Ich hoffe, dass es Ihnen gelingt – auch wegen Ihrer jüngeren Kinder, denen Sie – welche Ironie! – Ihrem Sohn zufolge nicht genug Grenzen setzen.
Es dauerte eine Zeit, bis ich erneut einen Brief der Eltern erhielt, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Die beiden schrieben mir:
Vielen Dank für Ihre konstruktive und rasche Antwort! Wir haben jetzt das erste Gespräch mit unserem Sohn geführt, was sehr schwierig war. Es war wirklich ein Kampf zwischen den Gefühlen und der Vernunft – in solchen Zusammenhängen neigt man dazu, sich vor allem nach den Gefühlen zu richten, weil das am leichtesten zu sein scheint.
Deshalb musste vor allem ich (für meinen Mann war es leichter) all meine Energie und Konzentration darauf richten, was die Vernunft mir sagte. Der Beginn des Gesprächs verlief anders, als ich erwartet hatte. Das Erste, was mein Sohn entgegnete, war: »Das wurde auch Zeit!« Er wusste, dass wir zu wenig Forderungen an ihn gestellt haben und dass es wichtig ist, etwas zum Familienleben beizutragen. Doch als die Forderungen ausblieben, habe er das als Erlaubnis aufgefasst, einfach so weiterzumachen, und so sei alles aus dem Ruder gelaufen. Es sei ihm schwergefallen, sich selbst Grenzen zu setzen und seinem Leben eine gewisse Struktur zu geben, wenn wir das nicht taten. Er sagte geradeheraus, dass wir einfach zu nett gewesen wären. Ich habe ihm darauf entgegnet, dass es mir ebenfalls schwergefallen sei, Grenzen zu setzen. Dabei wollte ich unbedingt, dass es ihm besser geht als mir in meiner eigenen Kindheit. Er meinte, dass es gar nicht so schwierig sein sollte, Grenzen zu setzen oder Forderungen zu stellen. Das hat uns wirklich die Augen geöffnet. Es ist doch wie mit Verkehrsregeln. Wenn niemand bestimmt, wie schnell man fahren darf, würde vermutlich jeder so schnell fahren, wie er will, ohne viel Rücksicht auf andere zu nehmen. So sind wir Menschen wohl konstruiert. Unser Sohn erzählte auch, dass er sich bei seinen Entscheidungen die Ausbildung betreffend stets nach unseren Wünschen gerichtet hätte. Er selbst habe gar nicht gewusst, was er eigentlich will. Er habe sich auch nur deshalb entschieden, auf der Technischen Universität zu beginnen, um Ingenieur zu werden, weil auch sein Vater Ingenieur ist.
Diese Aussage hat uns überrascht, aber dann sahen wir ein, dass er recht hatte. Wir hatten uns so fest eingeredet, dies sei das Richtige für ihn, dass wir davon überzeugt waren, dass er selbst diesen Wunsch hegen würde. Wir vermittelten ihm, dass er wirklich werden könne, was er selbst werden wolle, und dass wir ihn noch genauso lieben würden, wenn er nicht studieren, sondern gleich arbeiten wolle.
Er entgegnete, er hätte sich bereits entschieden, er wolle Psychologe werden! Wir wussten, dass er sich früher schon einmal mit diesem Gedanken beschäftigt hatte, hatten dies jedoch nicht sonderlich ernst genommen – das war eigentlich nicht das, was wir uns für ihn vorgestellt hatten. Doch jetzt erzählte er uns, dies sei eine selbstständige Wahl, die auf seinem wirklichen Interesse basiere. Das erscheint uns fast wie ein Paradox! Auf der einen Seite hat er eine Familie, die so wenig Forderungen an ihn gestellt hat, dass er den Herausforderungen des Lebens schlichtweg nicht gewachsen war; auf der anderen Seite will unser Sohn die psychischen Mechanismen erforschen, die diesen Vorgängen zugrunde liegen, sodass er zu einer größeren Lebensqualität finden kann. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Wir haben unseren Sohn nicht als das gesehen, was er ist, ein selbstständiges Individuum. Wir haben ihn eher als unseren Klon
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