Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
absurd, manches Verhalten zu kritisieren und anderes zu loben.
Stellen Sie sich vor, Sie selbst seien über Monate hinweg gewissen Stimmungsschwankungen unterworfen. Ihren Nächsten gegenüber sind Sie aggressiv oder auch nur in sich gekehrt und reizbar. Hin und wieder gibt es Tage, an denen Sie wieder »ganz Sie selbst« sind, wie es fälschlich heißt. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass Ihr Mann damit beginnt, Sie an diesen Tagen zu loben: »Jetzt bist du endlich wieder lieb! Diese Frau gefällt mir sehr viel besser!« Es stellt sich der Automatismus ein, dass Ihr Mann nur dann fröhlich und positiv gestimmt ist, wenn Sie es auch sind.
Finden Sie diese »positive Verstärkung« Ihres Verhaltens richtig, oder kommen Sie sich ignoriert und einsam vor, weil Sie nicht jeden Tag bestens gelaunt sein können?
Dies ist – auch in der Beziehung zu Kindern – der sicherste Weg, um einsame kriegerische Individuen zu schaffen, die ständig in Machtkämpfe verstrickt sind, um Selbstbestätigung zu erfahren, oder um Gefallsüchtige zu erzeugen, die sich übersehen fühlen, wenn sie nicht pausenlos gelobt werden.
Ihre älteste Tochter war offenbar nicht gut genug darauf vorbereitet, wie es ist, eine kleine Schwester zu bekommen. Ich kann nicht beurteilen, ob Sie als Eltern in dieser Hinsicht etwas versäumt haben oder ob das Erlebnis an sich für Ihre ältere Tochter so ein Schock war, dass sie dies in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen musste. Für gewöhnlich bereiten Eltern ihre Kinder mit einem gewissen romantischen Unterton auf solch ein Ereignis vor, vergessen jedoch zu sagen, dass diese eigentlich glückliche Begebenheit auch einen radikalen Verlust mit sich führt:
50 Prozent all dessen, was die Älteste ihr bisheriges Leben lang hatte, geht nun verloren und wird nie wiederkehren, ganz gleich, welche Kapriolen die Eltern auch schlagen.
Wenn Mette sagt: »Ich will euch nicht mehr haben! Haut ab! Ich geh von zu Hause weg!« und aus vollem Hals »Nein!« schreit, dann bedeutet das: »Meine Welt und meine Lebensgrundlage haben sich so radikal verändert, dass ich das Gefühl habe, nicht mehr dazuzugehören. Nicht nur die Symbiose mit meiner Mutter ist vorbei, sondern die ganze Familie hat sich verändert. Ich will meine alte Familie zurückhaben!«
Vermutlich haben Sie recht, dass der Zeitpunkt für den Kindergartenwechsel nicht optimal war. Den wechselhaften Rückmeldungen Ihrer Tochter können Sie in jedem Fall Vertrauen schenken. Denn sie muss ihr Leben quasi zwischen zwei Eltern hindurchmanövrieren, die völlig unterschiedliche Temperamente und Werte haben. Der empfindsamen und beschützenden Art ihrer Mutter steht das nüchterne Verständnis ihres Vaters gegenüber, dass jeder Lebensstil auch Schmerzen erzeugt und dass dies vollkommen in Ordnung ist. Dieser klassische Unterschied zwischen Müttern und Vätern neigt im Lauf der Jahre zu einer zunehmenden Polarisierung, und nicht selten endet es damit, dass wir Dinge sagen, die wir eigentlich nicht meinen. Wenn der eine Partner zum Pessimismus neigt, wird sich der andere automatisch mehr und mehr zum »unverbesserlichen« Optimisten entwickeln.
Sie wollen in Ihrer Tochter etwas ganz Besonderes sehen, während ihr Vater den Blick lieber auf das Durchschnittliche richtet.
Gemeinsam sorgen diese beiden Perspektiven mit großer Sicherheit dafür, dass Ihre Tochter als das gesehen wird, was sie ist.
Sie ist ja unter anderem kreativ und gut darin, Bilder in ihrem Kopf zu entwerfen. Mit diesem Ausgangspunkt im Hinterkopf sollten Sie (nicht Ihr Mann!) sich in einer ruhigen harmonischen Stunde an Ihre Tochter wenden und Folgendes zu ihr sagen: »Du, ich habe da über etwas nachgedacht, worüber ich gerne mit dir reden möchte.
Ich glaube, es war viel schwerer für dich, als ich mir vorstellen konnte, als deine kleine Schwester geboren wurde und in unser Haus gekommen ist. Eine Zeit lang habe ich geglaubt, dass du ohne bestimmten Grund wütend und unzufrieden bist, doch jetzt glaube ich, dass es damals sehr schwer für dich war. Stimmt das?«
Auf die eine oder andere Weise wird sie Ihre Frage bestätigen (falls es Ihnen gelingt, sich Ihre mütterliche Besorgnis und Ihr schlechtes Gewissen weder anhören noch ansehen zu lassen).
Darauf können Sie entgegnen: »Ich bin froh, dass du das sagst … jetzt begreife ich das besser, aber weißt du was? Vielleicht könntest du ein paar Bilder für mich malen, damit ich richtig verstehen kann, wie es dir damals
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