Viereinhalb Wochen
ein Brief an all unsere Verwandten und Freunde:
Liebe Familie, liebe Freunde,
wir haben in der Feindiagnostik diese Woche eine eindeutige, nicht zu leugnende Diagnose bekommen. Unser Baby ist nicht gesund. Bitte versteht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt keine näheren Aussagen dazu machen.
Wir teilen Euch dies mit, weil wir folgende Bitten haben: Bitte ruft uns nicht an, schickt keine E-Mails oder Briefe, kommt uns nicht besuchen etc. Bitte keinerlei Kontakt.
Wir brauchen jetzt Ruhe und melden uns wieder, wenn wir so weit sind.
Bitte respektiert diesen Wunsch.
Bitte betet für uns drei und denkt an uns.
Eure Constanze & Tibor
Das sollte unser Befreiungsschlag sein, denn unsere auf stumm geschalteten Handys vibrierten schon in rhythmischen Abständen über den Schreibtisch, weil viele Leute die glückliche Ankündigung meiner Schwangerschaft erhalten hatten und uns gratulieren wollten – hatten sie doch keine Ahnung davon, wie fern uns dieses Glück schon war, fern wie aus einem anderen Leben! Doch mir war es genauso wie Tibor unmöglich, ans Telefon zu gehen, wir konnten keine E-Mails beantworten, nichts Glück Vortäuschendes und auch nichts Unglück Ankündigendes sagen. Darum der Brief, den wir auch an unsere Freunde versandten, tags darauf per E-Mail.
Unser zweiter Befreiungsschlag war »Emmas Strandhütte« an der Ostsee – ich fand sie im Internet. Ein einfacher, aber geschmackvoll eingerichteter Bungalow in einer im Frühjahr noch einsamen Dauercamper-Anlage. Ich buchte für den übernächsten Tag, denn Einsamkeit und Weite schienen uns damals unsere am besten geeigneten Begleiter zu sein. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, packte ich schon mal ein paar Sachen zusammen. Dabei fiel mir mein rosarotes Mami-Album in die Hände, dass ich zu Beginn der Schwangerschaft so begeistert auszufüllen begonnen hatte. Verzweifelt warf ich es in die Ecke. Das war Vergangenheit, vorbei. Ich war keine Mami mehr. Ich war die Trägerin eines todgeweihten Kindes.
Abends rief ich Susel an. Sie war außer dem Pastorenehepaar in Hof und meinem Bruder Sebastian die Einzige, die von unserer Katastrophe wusste. Helfen konnte sie mir auch nicht. Viel später erzählte sie mir, dass sie damals in ihrer Verzweiflung über meinen Zustand mit der Pfarrersfrau in ihrem Dorf gesprochen hatte. Sie solle austragen, hatte die ihr auf den Weg mitgegeben, so viele Frauen seien unglücklich nach einer Abtreibung! Doch noch am Abend nach diesem Gespräch hatte sich die Pfarrerin telefonisch bei Susel gemeldet und ihre Äußerung zurückgenommen: »Mir steht so eine Meinung nicht zu«, hatte die Frau ihr gesagt, »diese Entscheidung kann jeder nur selbst treffen.«
Ich fühlte immer mehr, dass mir wirklich niemand helfen konnte, und Tibor ging es genauso. Zum ersten Mal in unseren Leben waren wir vollkommen auf uns allein gestellt.
Am nächsten Morgen waren wir wieder bei Professor Chaoui, zur Plazentaprobeentnahme oder
Chorionzottenbiopsie,
wie dies wissenschaftlich heißt. Es tat weh, verlief aber ohne Komplikationen. Tibor war jede Minute bei mir, er ließ meine Hand keine Sekunde los. Danach musste ich auf einem Bogen eine Frage beantworten:
Wollen Sie, dass Ihnen das Geschlecht des Kindes mitgeteilt wird?
Tibor und ich sahen uns an und nickten gleichzeitig. Wir mussten keine Sekunde lang nachdenken:
Ja
Nach spätestens vierundzwanzig Stunden würden wir einen ersten Kurzbefund bekommen, nach vier Wochen die ausführliche Analyse.
Zu Hause angekommen, versanken wir wieder in unserer Trauerdämmerung, bis nachmittags mein Handy vibrierte. Ich wollte zuerst nicht antworten, doch als ich die Nummer sah, dachte ich an die Praxis von Professor Chaoui und hob doch ab. Tatsächlich war die Humangenetikerin in der Leitung, mit der ich am Vortag aneinandergeraten war. Sie las mir sachlich und ohne jede Empathie aus dem Befund vor, als würde sie das Telefonbuch referieren, obwohl sie eine todtraurige und gleichzeitig eine freudige Nachricht zu übermitteln hatte: »Die Diagnose kennen Sie ja. Ich kann Ihnen aus dem Kurzbefund mitteilen, dass es kein Chromosomendefekt ist, keine Trisomie, keine erblich bedingte Schädigung.« Die Ärztin war kurz angebunden, ich dagegen war wie benommen: Wir konnten also weitere Kinder kriegen, unser Erbgut war in Ordnung!
Die Humangenetikerin wollte schon wieder auflegen, als ich aufschreckte und im letzten Moment in das Telefon rief: »Stopp! Bleiben Sie dran! Wir haben doch extra
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