Viereinhalb Wochen
materiellen Dingen zu umgeben, möglichst wenig Ballast anzusammeln. Ich staunte trotzdem nicht schlecht ob all der Kisten, die auf mich warteten – immerhin würde Tibor am nächsten Tag zu arbeiten beginnen, und ich würde größtenteils auf mich allein gestellt sein mit dem Auspacken – oder, besser gesagt, Julius und ich würden auf uns beide allein gestellt sein, denn unser Sohn machte sich von Tag zu Tag mehr bemerkbar – auch durch meinen wachsenden Bauchumfang.
Dass Tibor arbeiten ging, sollte für mich eine noch größere Umstellung bedeuten als das Leben in unserem neuen Nest, was an und für sich eine feine Sache war, weil wir nun endlich auch für uns sein konnten, ohne das ständige Gefühl, Rücksicht nehmen zu müssen auf die anderen Bewohner der WG oder auch ohne den dauernden Drang, die eigene Trauer nicht zu sehr auf die anderen überschwappen zu lassen. So saß ich Tag um Tag mit meinem Teppichmesser bewaffnet zwischen den Umzugskartons auf dem Boden und schnitt die unzähligen Klebebänder auf, die unseren Hausrat schützten. Unser kompletter Haushalt war von einem amerikanischen Umzugsunternehmen gepackt worden und sehr bruchsicher verstaut: Jeder einzelne Gegenstand war mit unzähligen Schichten Papier, Noppenfolie und Klebestreifen gesichert – und dadurch war alles heil über den Ozean gekommen. Nachdem ich die ersten Kartons geöffnet hatte, wusste ich, dass ich in dem Schneckentempo, das ich in meiner Situation vorlegte, wochenlang brauchen würde, um alles wieder ans Tageslicht zu befördern.
So wühlte ich mich langsam und bedächtig wie ein Maulwurf durch die Berge, Halden und Täler, die unsere über hundertfünfzig Umzugskartons mit dem daraus hervorquellenden Verpackungsmaterial bildeten. Es machte Spaß, es war wie Weihnachten, seine Sachen endlich nach einem halben Jahr wiederzusehen. Ich redete viel mit Julius, erklärte ihm, was ich gerade machte. Das Erste, was ich suchte, fand und auspackte, war mein großer gelber Meditationssessel. Ihn brauchte ich, denn er war perfekt geeignet für meine Pausen, in denen ich die Beine hochlegte, den Blick zum Fenster hinaus gen Himmel richtete, den zwitschernden Vögeln lauschte und Julius’ Klopfen in mir spürte.
Meine Arbeit wurde nur unterbrochen von den Gängen zum Einkaufen, zum Arzt und zur Psychologin. Auch lebte ich in dieser Zeit ungefähr so zurückgezogen wie ein Maulwurf. Am liebsten verkroch ich mich in meine Höhle, die zwischen all den Kisten und Kartons langsam Form annahm, andere Menschen mied ich, so gut es ging. Ich fühlte mich noch lange nicht gefestigt genug, um die Gegenwart anderer auszuhalten, war ich doch immer noch ziemlich nahe am Wasser gebaut. Damals hatten wir ohnehin noch nicht so viele Freunde oder Bekannte in Berlin, und in unserer neuen Neuköllner Umgebung kannte ich noch keine Menschenseele. An manchen Tagen machte ich morgens nur den Kaffee für Tibor, setzte mich mit ihm zusammen an den Frühstückstisch und schlüpfte sofort wieder ins Bett, um erst mal ins Kissen zu schluchzen, sobald er aus der Tür war. Dann hatte ich jedes Mal genug damit zu tun, mich für die seltenen, aber notwendigen Gänge nach draußen schön zu machen.
Einer dieser Gänge führte mich am Tag nach dem Umzug ein letztes Mal zur Untersuchung in die Friedrichstraße. Ich berichtete Frau Dr. Sarut López von unserer Entscheidung, das Kind auszutragen. Beim Ultraschall fragte sie mich unsicher, ob sie denn für mich ein Foto von meinem Kind ausdrucken solle. Ich wusste, dass die Mütter normalerweise immer so ein Souvenir von ihrem Ungeborenen mit nach Hause bekommen.
»Na klar«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen.
Die Ärztin probierte es mehrere Male, ein Foto von Julius’ Gesicht zu machen, was sich alle Eltern wünschen, denn die Bilder, die diese 3 -D-Ultraschallgeräte produzieren, sind sehr lebensecht. Doch der Kleine drehte sich ununterbrochen und schob auch noch seine Ärmchen ständig vor sein Gesicht. Ich konnte auf dem Monitor hautnah mitverfolgen, wie Julius sich richtig versteckte vor der Ärztin, so dass nichts zu machen war. Also bekam ich kein Porträt von ihm mit, dafür aber ein präzises Bild des Oberkörpers.
Ich konnte kaum Tibors ersten Feierabend erwarten, um ihm das Bild zu zeigen.
»Boah, der hat ja dieselben Oberarme wie sein Papa, genauso stark!«, entfuhr es ihm spontan.
Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte, entschied mich dann aber für Letzteres. Wieder einer
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