Viereinhalb Wochen
dass ich so lange trauern und den Verlust von Julius verarbeiten könne, solange ich das brauche. So kehrte langsam Ruhe in mir ein. Still saßen wir beisammen. Ich fühlte uns als drei Menschen, ich fühlte Julius bei uns. Die Nacht war lau und sternenklar. Vom Hof kam nur das Blätterrauschen in den Pappeln. Es herrschte Frieden.
Irgendwann lange nach Mitternacht ging Tibor zu Bett, und ich nahm meinen Laptop zu mir. Ich schrieb E-Mails in die USA , an Diana und an Susie. Ich war dankbar für die Zeitverschiebung. Ich bekam sofort Antworten, die mir halfen: Susie schrieb, dass für sie der Tag vor der Beerdigung Joshuas viel schlimmer gewesen sei als der Tag selbst.
Später nahm ich meine Gitarre zur Hand und sang
Blessed be Your Name:
You give and take away,
You give and take away,
My heart will choose to say:
Lord, blessed be your name!
Ich hatte dieses Lied schon öfter für Julius gesungen, mit der Gitarre auf dem dicken Bauch, und ich dachte, ich würde die Gitarre auch am nächsten Tag mitnehmen und dieses Lied am Grab singen. Es war vier Uhr morgens, und es wurde schon hell, als ich mich endlich hinlegen konnte, völlig erledigt, ausgeweint, leer.
Nach zwei Stunden Schlaf war es schon wieder vorbei mit der vorläufigen Ruhe. Der Wecker klingelte, ein neuer Tag sollte beginnen. Der letzte Tag mit Julius.
Der letzte Tag mit unserem Sohn auf dieser Welt.
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Unter die Erde
D ieser Tag begann um acht Uhr morgens im Büro unserer Psychologin. Jede Woche am Dienstagmorgen waren wir bei Frau Fricke, in all den Monaten war das ein Fixstern in unserem Wochenablauf gewesen, und an diesem wichtigen Tag wollten wir keine Ausnahme machen, schon gar nicht, da das unser erster Termin bei ihr nach der Geburt war. Nur am Geburtstag selbst hatten wir unser Treffen mit ihr ausfallen lassen müssen. Wir hatten ein gutes Gespräch, erzählten viel von letzter Woche und luden sie zur Beerdigung ein, die in wenigen Stunden stattfinden sollte. Frau Fricke war berührt von der Idee, musste aber absagen, weil sie zur selben Zeit zu einer Beratung musste – zu einem neuen Paar aus der Praxis von Professor Chaoui, das vor derselben Entscheidung stand, wie wir das getan hatten. Wie sich der Kreis schließt, dachte ich, wie die immer gleichen Katastrophen immer und immer wiederkehren, wie unsere Geschichte eingebettet ist in einer großen Geschichte, die nie aufhören wird, solange es Menschen gibt.
Wir liefen wieder nach Hause, aufgeregt und angespannt, abwartend, bis es endlich so weit sein sollte für uns. Außerdem war es vorbei mit der angenehmen Wärme der letzten Wochen: Ein Regenguss hatte die Luft abgekühlt, es war ein windiger, trüber und wolkenverhangener Tag, an dem man seine Jacke gut gebrauchen konnte. Begräbniswetter, mitten im Sommer.
Als wir mit dem Taxi am Friedhof ankamen, war im ersten Stock des Cafés schon alles vorbereitet: Bernd hatte Julius bereits gebracht, die zwei Räume waren liebevoll und zurückhaltend dekoriert. Die Rosenblätter, die Bernd um Julius’ bemaltes Bettchen ausgestreut hatte, und die blauen Bänder um den Sarg, an denen er ins Grab gelassen werden sollte – es sah alles so wunderschön aus. Die Atmosphäre war friedlich. Vorbereitet. Aber was war mit diesen Bändchen los?
»Bernd, was hast du da gemacht? Die sind ja einfach drangetackert an sein Bettchen!?«, fragte ich überrascht.
»Ja, klar. Aber ich hab vor jedem Tackern gesagt, ›Vorsicht, Julius, jetzt knallt’s mal kurz‹, und dann war es gut.«
Das kam so ehrlich heraus, aber auch so herzlich, dass wir alle drei auf der Stelle lachen mussten.
Endlich wagten wir, den Deckel zu öffnen – und Julius sah wunderbar aus, immer noch. Nur sein Gesicht war zu sehen, die Haare, ein Ohr. Er sah so süß aus wie direkt nach seiner Geburt, so rosig, so frisch. Wir saßen die eine Stunde, bevor die Trauergäste kommen sollten, einfach nur da, auf der Eckbank unter der Dachschräge, und besahen wieder und wieder unseren Sohn. Ich wollte ihn nicht noch einmal herausnehmen aus seinem Bettchen, deshalb umarmte ich das ganze Kästchen, in dem er lag, und versank in seinen feinen Gesichtszügen. Vom Erdgeschoss her war das Stimmengemurmel der Kaffeehausgäste zu hören, die keine Ahnung davon hatten, was hier oben vor sich ging, was auch gut so war – und es war gut, dass wir etwas vom Leben hörten, das trotz allem weiterging.
Durchs Fenster sah ich, dass alle unsere Besucher schon eine Viertelstunde vor der Zeit vor
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