Villa des Schweigens
ich nicht. Claire trat mir unter dem Tisch ans Schienbein und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Das Thema Jette war für sie erledigt. Ich schluckte den Rest meines Satzes runter und sah fassungslos zu, wie Julius sich verschlafen die Pizza in den Mund schob, auf der schon Generationen von Fliegen ihre Orgien abgehalten hatten.
»Schmeckt's?«, fragte Claire. Offenbar war Julius gegen Ironie völlig resistent. Und während ich mich innerlich noch schüttelte, fing zwei Zimmer weiter im Bad die Dusche an zu rauschen. Wie auf Kommando sahen sich Claire und Julius an und grinsten.
»Benjamin?«, fragte Julius. Claire nickte. Julius ging ohne ein weiteres Wort zu sagen zum Spülbecken, drehte das heiße Wasser auf und lauschte. Eine Sekunde später ertönte ein wütender Fluch aus dem Bad. Sie lachten.
»Was machst du denn da?« Die hatten hier wirklich alle einen Knall.
»Wenn man in der Küche das heiße Wasser aufdreht, fehlt es im Bad. Ist halt ein altes Haus«, sagte Julius und zuckte belustigt mit den Schultern. Offensichtlich hielt er mich für unglaublich begriffsstutzig. Benjamin brüllte etwas.
»Ja, aber Benjamin ist doch in der Dusche«, sagte ich perplex.
»Er schuldet Miete.« Claire drehte ihren Kopf genüsslich in die Richtung, aus der das Geschrei kam.
»Genau.« Julius grinste. »Keine Miete, kein heißes Wasser. Oder nur heißes Wasser.« Jetzt drehte er plötzlich das kalte Wasser auf und das warme zu. Diesmal brüllte Benjamin noch lauter.
»Hör auf«, sagte ich. Aber sie hörten nicht auf. Sie lachten immer noch, als die Tür aufgerissen wurde und ein feuerroter, dampfender Benjamin vor uns stand, ein Handtuch hastig um den Bauch geschlungen.
»Was soll der Scheiß?«, schimpfte er.
»Tja, diese alten Wasserhähne.« Julius streichelte liebevoll den Warmwasserknauf. »Die haben es in sich.« Claire hielt sich prustend die Hand vor den Mund.
»Hör auf damit.« Benjamin zitterte, ob vor Kälte oder Wut war schwer zu sagen.
»Klar hör ich auf. Wenn du mir die Miete zahlst.« Julius lächelte ihn liebenswürdig an.
Benjamin drehte sich um und knallte die Tür zu.
»Ich nehm auch noch 'ne Collage«, brüllte Julius ihm hinterher.
»Noch 'ne Collage?« Ich runzelte die Stirn. Was ging hier vor?
Claire winkte ab. »Bennys Kunst. Hast du sie nochnicht gesehen? Hat doch das ganze Zimmer voll. Eins davon hat er Julius geschenkt, anstatt der Miete. Er kann einfach nicht mit Geld umgehen, macht dauernd Schulden.«
Das fiese Teil mit den Armen und Beinen stammte von Benjamin? Etwa auf Julius' speziellen Wunsch hin angefertigt? Oder waren das Benjamins eigene abstruse Fantasien? Ich beobachtete Julius, der sich in aller Ruhe eine Pfeife stopfte. Und noch etwas war komisch. Julius hatte Geld wie Heu, das war eindeutig. Warum sollte er wegen mickrigen zwei- oder dreihundert Euro Miete so ein Theater veranstalten? Es machte keinen Sinn. Es sei denn ... Bei dem Gedanken wurde mir ein bisschen übel. Es sei denn, Julius hatte Spaß daran, andere zu quälen.
Ich ließ die beiden sitzen und ging wie betäubt in mein Zimmer. In was für einem Tollhaus war ich hier eigentlich gelandet? Würde man auch bald mit mir irgendwelche makabren Scherze treiben? Jettes Klamotten lugten aus der Schublade heraus und ich schüttelte mich innerlich. Warum hatte Claire so ausweichend reagiert? Ich würde Lauren fragen, wenn ich sie das nächste Mal sah. Irgendwas war faul in diesem Haus. Als hätte jeder irgendein schmutziges kleines Geheimnis. Keiner rückte so richtig mit der Sprache raus. Außer vielleicht Stefan, aber der machte über alles nur Witze. Julius hatte einen totalen Dachschaden, Claire irgendwie auch und Benjamin... Ich dachte an seine Fotocollagen und an die Box, oben auf dem Dachboden. Jemand verließ das Haus. Ich lauschte.
Waren jetzt alle weg? Es war totenstill. Ich huschte schnell in den Flur, sah mich kurz um und flitzte dann die Treppe hoch. Mittlerweile fand ich es selbst ein bisschen albern, dass mir das Obergeschoss neulich Nacht so eine Angst eingejagt hatte. Ich öffnete die Glastür und ließ sie leicht angelehnt, damit ich hören konnte, wenn jemand die Treppe hochkam.
Wo war die Kiste? Da! Ich kniete mich auf den Boden und griff hinein. Unmengen von Fotos. Und angefangene Collagen, die meisten davon Gesichter, bei denen er irgendwas dazugeklebt oder abgeschnitten hatte. Ziemlich morbides Zeug. War das hier der wahre Benjamin und die kunstvollen Sachen in seinem Zimmer nur
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