Villa des Schweigens
daher genauso gut aufstehen.
Im Korridor lag etwas. Oder besser gesagt jemand. Da hatte wohl einer von Julius' Freunden zu tief ins Glas geschaut und den Weg nach Hause nicht mehr gefunden. Ich wollte über die schlafende Person hinwegsteigen, als ich bemerkte, dass es Lauren war.
»He! Wieso schläfst du denn ...«, setzte ich an,dann brach ich ab. Es war, als hätte jemand plötzlich seine Hand durch meine Rippen gesteckt und meine Lunge gequetscht, sodass ich keine Luft mehr bekam.
Etwas stimmte nicht mit Lauren. Ihre Haltung? Sie lag so komisch krumm da.
Ihr Gesicht? Es war blass, fast gelblich. Dann wusste ich es. Es waren ihre Lippen. Das leichte Zittern der Atmung fehlte, nicht der kleinste Hauch war zu spüren. Ich berührte ihren Arm. Kalt. Ließ sich nicht bewegen. Keine Reaktion.
Eine warme, nasse Welle kam über mich.
»Lauren?«
15. Kapitel
Der Schrei aus meinem Mund klang gellend und markerschütternd und hörte erst auf, als mich jemand so stark rüttelte, dass es wehtat. Stefan.
»Mensch!«, schimpfte er. »Was brüllst du denn so?«
Tränen quollen mir aus den Augen, trübten meine Sicht. Sein Gesicht verschwamm zu einem hellen Fleck.
»Lauren«, wisperte ich. Etwas Bitteres schoss meine Speiseröhre hoch, bahnte sich einen Weg nach draußen. Ich presste die Hand vor meinen Mund.
»Herrgott noch mal, wie viel hast du denn ...« Er sprach nicht weiter. Sein Blick war auf Lauren gelandet. Auf ihrem verdrehten Körper. Den blutleeren Lippen. Stefan warf sich auf sie, schüttelte sie, rief ihren Namen. Fühlte ihre leblose, starre Kälte. Dann sprang er auf, sah hektisch um sich, die Augen blutunterlaufen.
»Julius!«, schrie er. »Julius, wach auf! Benny! Claire! Scheiße, verdammte Scheiße! Lauren, Baby!« Er zerrte plötzlich an meiner Hand. »Ruf den Notarzt!«
»Stefan ...«, sagte ich langsam.
»Ruf an, verdammt noch mal!« Und so stürmte ich zurück in mein Zimmer, schnappte mein Handy undhämmerte die drei Zahlen hinein, während um mich herum die Welt, wie ich sie bislang gekannt hatte, aufhörte zu existieren. Türen klappten, ich sah Beine, Arme, Köpfe, ohne sie zuordnen zu können, hörte Geräusche: Weinen, einen Aufschrei, schrille Wortfetzen. Ich redete mechanisch mit einer Frau am anderen Ende des Telefons, gab die Adresse durch, knickte kurz in den Knien zusammen und rappelte mich wieder hoch. Wie durch einen Schleier sah ich zu, wie Stefan auf Laurens Brustkorb herumdrückte.
Dabei hätte er als halber Mediziner es doch besser wissen müssen.
Wann das umsonst war.
Ich hätte später nicht mehr sagen können, wie die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungswagens verging. Plötzlich waren sie da, zwei junge Männer, die unverzüglich mit irgendwelchen Instrumenten herumfuhrwerkten, hastig, dringend, nur um nach einer viel zu kurzen Zeit erschöpft mit dem Kopf zu schütteln. Nichts mehr zu machen.
Lauren war tot.
Ich nahm kaum etwas wahr. Ich saß auf dem Boden und fixierte Laurens glitzerblauen Nagellack, der am großen Zeh bereits absplitterte. Aus irgendeinem Grund fand ich gerade das schrecklich grausam. Dass die arme, hübsche Lauren, die immer wie aus dem Ei gepellt ausgesehen hatte, nichts dagegen tun konnte, wie sie jetzt aussah. Dass sie niemals wiederihre Fußnägel lackieren würde. Und da weinte ich wieder. Ich weinte immer noch, als zwei ernst aussehende Polizisten erschienen, die offensichtlich von den Rettungsleuten gerufen worden waren. Einer der beiden war ein kräftiger, älterer Mann mit freundlichen Augen, der mich an meinen Vater erinnerte. Meine Eltern! Meine Eltern saßen jetzt irgendwo im Elsass und aßen Flammkuchen, während ihre Tochter auf dem Boden neben einer Leiche hockte! Ich schnappte mein Handy und wählte mit zitternden Fingern die Nummer meiner Mutter.
»Hallihallo, hier ist die Brigitte, bin gerade nicht erreichbar, versucht es doch später noch einmal.« Beim Klang der munteren und vergnügten Stimme meiner Mutter zuckte ich zusammen. Sie hörte sich so normal an. Genauso wie gestern und vorgestern und an allen anderen Tagen davor. Als Lauren noch am Leben gewesen war.
Ich konnte nichts sagen. Stumm klappte ich mein Handy zu. Wie sollte ich meiner Mutter denn eine solche Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen?
Und dann, als plötzlich noch zwei andere Männer auftauchten, diesmal in Zivil, und sich als Hauptkommissar Ertl und sein Assistent von der Kripo vorstellten, da dämmerte in meinem Kopf zum allerersten Mal die
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