Villa Oma
‚Rotkäppchen’ erzählen.“
„Aber ich habe es dir doch schon hundertmal erzählt“, jammerte Brigitte, „kann ich heute nicht mal was anderes erzählen?“
„Nein“, sagte Rolf streng, „Rotkäppchen!“, und als Brigitte noch zögerte, standen ihm gleich die blanken Tränen in den Augen, und sein kleiner Mund verzog sich zum Weinen.
„Ist ja schon gut“, rief Brigitte, „ich erzähl ja schon.“
Nun, das mußte jeder zugeben, daß Brigitte „Rotkäppchen“ ganz besonders gut erzählen konnte. Nur waren die Zuhörer erstaunt, daß am Schluß der böse Wolf nicht mit Steinen gefüllt wurde und tot umfiel. Nein, er wurde ohne Steine wieder zugenäht, und danach hielt Rotkäppchen ihm einen langen Vortrag, daß niemand ihn mehr lieb hätte, wenn er so scheußliche Sachen machen würde wie arme, alte Großmütter aufzufressen. Darauf ging der Wolf in sich und wurde ein guter Wolf, und er durfte schließlich auch mit den anderen Kuchen essen und Wein trinken.
„Aber das stimmt doch gar nicht!“ rief Peter.
Brigitte meinte: „Weiß ich doch, aber wenn ich es anders erzähle, muß er immer um den Wolf weinen“, und sie zeigte auf Rolf, der äußerst befriedigt aussah.
Als nächste war Oma dran mit dem Erzählen. „Da war einmal ein Junge, der hieß--, nun, der hieß --“, fing sie an.
„Peter“, rief Peter.
„Gut“, sagte Oma, „da war einmal ein Junge, der hieß Peter, und der hatte eine Maus.“
„Genau wie ich“, rief Peter. Aber die anderen meinten, er sollte nun endlich still sein und die Geschichte hören.
„Also, Peter hat eine Maus. Sie ist braun, hat schwarze Knopfäuglein , rosa Pfoten, runde, rosa Öhrchen, einen langen Schwanz und heißt Susi. Sie hat im Keller einen Käfig, in dem ein hübsches Haus steht und ein Trink- und Freßnäpfchen . Eigentlich sollte Susi dort wohnen, aber meistens wohnt sie auf Peter. Sie schläft zusammengerollt in seiner Hosentasche oder geht in seinem Pulloverärmel spazieren, läuft den Arm auf der einen Seite hinauf bis zur Achselhöhle und auf der anderen Seite wieder herunter.
Einmal hat sie in Peters Hosentasche übernachtet, und Peter merkt es erst, als er am anderen Morgen in der Schule bei Herrn Schmidt Rechnen hat. Herr Schmidt rechnet nicht nur einfach mit Zahlen, er rechnet mit Äpfeln, Häusern und Katzen.
‚ Wieviel sind eine Katze und noch eine Katze, Peter?’ fragt er.
Peter, der eben Susi in der Hosentasche entdeckt hat, stottert: ,Keine Maus.’ Denn er muß daran denken, daß Katzen Susis schlimmste Feinde sind. Die Kinder lachen über Peter, und das macht Susi neugierig. Sie streckt ihren Kopf über den Rand der Tasche.
‚ Uih , wie süß!’ ruft Sabine, die neben Peter sitzt. Sie will nach Susi greifen, aber die Maus schlüpft ihr zwischen den Fingern durch, hüpft auf die Bank und von der Bank auf den Fußboden. Peter kann sie nicht mehr erwischen. Auch als es jetzt klingelt, kann Peter sich nicht um seine Maus kümmern, weil Herr Schmidt ruft:
,Geht schnell auf den Hof an die frische Luft!’
Susi duckt sich in eine Ecke, bis all die vielen Mädchen und Buben den Raum verlassen haben. Als auch hinter Herrn Schmidt die Tür zugefallen ist, wagt sie sich hervor und schaut sich die Klasse an. Ihr feines Näschen hat sehr bald gerochen, wo ein Kind sein Frühstücksbrot in der Mappe gelassen hat. Susi hat den Weg dorthin schnell gefunden und nimmt nun erst mal eine kleine Mahlzeit. Als sie satt ist, spaziert sie weiter herum, denn sie ist sehr neugierig. Schließlich landet sie im Schwammkasten bei der Tafel.
In diesem Augenblick geht die Tür auf, und Fräulein Nähmann kommt herein. Fräulein Nähmann ist die Handarbeitslehrerin, die nachschauen will, ob sich auch alle Kinder auf dem Hof befinden und sich keins unter einer Bank versteckt hat, was manchmal vorkommt. Sie sieht niemanden. Aber als sie gerade die Klasse wieder verlassen will, hört sie es niesen. Susi hat im Schwammkasten Kreide in die Nase bekommen und macht ‚hatschi’. Es ist ein leises Mäuse-Hatschi, aber das zarte Fräulein Nähmann , das nicht nur Handarbeits-, sondern auch Musikunterricht gibt, hat sehr feine Ohren.
,Wer ist da’, ruft sie, ,hat sich jemand versteckt?’
Sie schaut suchend in der Klasse umher. Sie kann kein Kind entdecken, aber plötzlich fällt ihr Auge auf Susi, die auf dem großen Schwamm sitzt und Fräulein Nähmann ängstlich betrachtet. Das Fräulein erschrickt fürchterlich. Es erschrickt so sehr, daß es in
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