Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)
Die Eingesichter kamen dicht heran und schlossen ihre Augen, rückten heran, berührten mit ihren Köpfen die Stirn der Kinder, strichen mit den Schnauzen über ihre Wangen, Pfoten berührten vorsichtig Hände, und als es zwischen den Kindern und den außerirdischen Lebensformen fast überhaupt keinen Abstand mehr gab, geschahen zwei Dinge auf einmal. Zum einen spielte das Wetter unversehens verrückt, die Wolken öffneten ihre wie immer bis zum Bersten gefüllten Schleusen und gossen einen wie ein Wasserfall herabprasselnden Regen in das ungewöhnlich geformte Gestrolch. Zum anderen ging in diesen acht so unterschiedlichen Wesen etwas vor, das schwer erklärbar war und für lange Zeit von niemandem so richtig verstanden werden sollte. Es war nicht gerade ein Orgasmus, der stattfand, wenn auch nicht unähnlich, und es war keine Explosion, jedenfalls keine, die etwas zerriss und zerfetzte, sondern eine, die etwas zusammenfügte, wenn auch nicht mit weniger Wucht. Es war, als ob die Regendrachen, die niemand je gesehen hatte, plötzlich heimgekehrt wären. Puzzlesteine rasteten ineinander ein und verschmolzen. Will hatte das Gefühl, in seinem Unterleib löse sich plötzlich ein Knoten, von dem er nicht gewusst hatte, dass es ihn gab. Es war eine Erschütterung, die für alle Beteiligten lebenslange Konsequenzen hatte, und nicht nur für sie. Natürlich wussten sie nichts davon, aber das, was hier geschah, sollte für mehr als nur diesen Planeten Folgen haben. Wenn es sogenannte unvoreingenommene Beobachter gegeben hätte, wäre der Eindruck dieser Szene verheerend gewesen – ein paar halbwüchsige Menschen, die eine Art von widernatürlichem Verkehr mit etwas hatten, das wie die Karikatur eines Wolfes oder Schäferhundes aussah, jeweils sechs Beinpaare an die Körper von offenbar geistig beeinträchtigten Teenagern presste und so bedrohlich wirkte wie Plüschtiere, die ein übermächtiger Dämon mit unbekannten Ansichten zum Leben erweckt hatte. Das alles spielte sich inmitten eines Wolkenbruchs ab, der selbst für vilmsche Verhältnisse seinesgleichen suchte und die Sicht auf wenige Meter reduzierte. Das fand statt, während die Eltern und Pflegeeltern dieser Kinder ihre Sprösslinge erstens unschuldig und zweitens beim Spielen wähnten. Beides stimmte, wenn auch nicht in genau dem Sinne, in dem die Erwachsenen es verstanden. Als das Erdbeben, das nur in Köpfen und Körpern stattgefunden hatte, vorbei war, ließ der Regen nach. Als hätte jemand einen riesigen unsichtbaren Hahn zugedreht, hörte der Regen auf und machte jenem typischen Nebeldunst Platz, der auf Vilm immer nach einem heftigeren Guss die Landschaft für einige Stunden verhüllte; ein Regendrache ist dagewesen, sagte man dazu. Die Kinder sprachen kein Wort miteinander. Sie machten sich von ihren unheimlichen Freunden los und krochen durch den versteckten Gang aus dem kreisförmigen, seltsamen Gestrolch hinaus. Jeder wurde begleitet von einem Eingesicht.
In dieser Formation trabten sie ihren Weg zurück, und keiner von ihnen kam auf die Idee, irgendwelche Purzelbäume zu schlagen oder kopfüber in Pfützen zu springen. Für solchen Unfug war die Welt zu aufregend, wie die Kinder sie jetzt sehen konnten. Da waren neue Farben in den Wolken. Da konnten sie den Atem der anderen in der Luft sehen. Da bewegten sich die Gestrolche, wie sie es noch nie getan hatten. Da wurden die Wege des Wassers durch den Boden und in den Pflanzen sichtbar. Da hüpften die kleinen Geister von aufgeschreckten Springwölfen als winzige Kugeln wirbelnden grauen Rauchs vorbei, und das kaum spürbare Denken der Schreilen war als merkwürdiges Flirren der Luft sichtbar. Die vier Kinder selbst sahen einander als eine Art gleißender Lichter, und zwar nur vier davon. Nicht acht. Diese Lichter, die in der Welt der Gegenstände und der laufenden Füße natürlich nicht sichtbar waren, enthielten jedes eines der Eingesichter und eines der Kinder. Die hundeartigen Wesen trabten nebenher auf vier Pfoten, das mittlere Beinpaar an die haarigen Bäuche gepresst. Jedes hielt sich nahe bei seinem Begleiter. Tom machte sich darum keine Gedanken, sondern freute sich über das wunderbare Gefühl, das damit verbunden war, so durch die Regenwelt zu laufen. Sdevan und Marja kam es vor, als sei es schon immer so gewesen, und fühlten sich, als wären sie an einen altbekannten Ort heimgekehrt, den sie bislang nur nicht gefunden hatten. Will dagegen grübelte nach, was da passiert war, und zwar nicht
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