Vilm 03 - Das Dickicht (German Edition)
starrte er an, was aus den Fingern geworden war, die vor wenigen Augenblicken noch nach einer harmlosen Liane gegriffen hatten. Harmlos! Wenn er versuchte, die Finger zu bewegen, zuckten elektrische Ladungen zwischen den Mittelhandknochen und dem Ellenbogen hin und her.
Er bat Vincent, die Universalmedizin aus dem Rucksack zu holen; das war ein Standardmedikament, das einige sehr wirksame Antibiotika enthielt und gegen alles wirken sollte, was die harmlose Liane ihm eingeimpft hatte.
Vincent traute seinen Ohren nicht. Er war um etwas gebeten worden! Kopfschüttelnd fing er an, in dem Rucksack herumzukramen, und versuchte sich zu erinnern, ob er von Leandro Cummino wohl jemals etwas anderes gehört hatte als Befehle oder Beschimpfungen. Er kramte etwas länger, als nötig gewesen wäre, und konnte in seinem Gedächtnis keine solche Gelegenheit finden.
Als er die kleine Dose mit dem fluoreszierenden Biohazard-Symbol in den dunklen Tiefen des Rucksacks entdeckt hatte, richtete er sich auf.
Vincent blickte genau in die Augen eines fremden Wesens.
Er schrie auf, sprang zurück und ließ die Dose fallen. Das Wesen sah ihn aus den vier dunklen Augen seiner beiden Schädel an. Es war mit einem dichten Fell bedeckt und sah irgendwie falsch aus. Das mochte daran liegen, dass Vincent zwar Eingesichter halbwegs gewohnt war, nicht aber ihre entfernten, wilden Verwandten, die wie so vieles Viehzeug auf diesem verregneten Planeten zweimal ein Vorne und dafür kein Hinten hatten.
Das hier musste ein Springwolf sein.
Vincent hatte von ihnen gelesen. Die Beschreibungen passten. Er wedelte mit den Händen und machte zischende Geräusche, um das Tier zu vertreiben. In allen Texten war übereinstimmend gesagt worden, dass Springwölfe außerordentlich scheu waren und sofort flüchteten, wenn sie die Anwesenheit eines Menschen bemerkten.
Vincent sah nach unten und suchte nach der Dose; dass deren Deckelsymbol im Dunklen leuchtete, sollte es einfach machen, sie wiederzufinden. So war es auch. Als er sie aufgehoben hatte, stellte er fest, dass der Springwolf wider Erwarten immer noch da war. Das Tier hatte sogar einen Artgenossen dabei, und beide rückten näher.
Es wirkte ein bisschen bedrohlich, aber auch faszinierend. Er machte ein Bild.
»Vincent, tu doch was«, flüsterte Cummino. Seine Stimme zitterte.
Ein Hauch finsterer Fäulnis wehte Vincent an. Er hob die Hand vor die Nase; kam das von Cummino, dieser Gestank? Aufgedunsene Schlangenkadaver, aus denen der trübe Verwesungssaft herausgepresst wurde?
Er drehte sich um.
Offensichtlich.
Cummino hatte jetzt nicht nur eine entschieden ungesunde Gesichtsfarbe, eine ins Gelbliche spielende Blässe. Er hatte auch einen ganz besonderen Geruch an sich. Er stank nach Opfer, nach zerfallendem Fleisch und gärenden Innereien; sämtlich starke Düfte, die den Springwölfen signalisierten, dass es was zu fressen gab. Überall schoben sich diese Tiere zwischen den Ästen der Pseudo-Baumkrone hervor, und Vincent war ihnen völlig gleichgültig. Sie starrten hungrig auf Cummino, der reglos an der hölzernen Wand lehnte und die Ankömmlinge bereits gesehen hatte.
Er hatte sich selbst für die angriffslustige Liane ungenießbar gemacht, ja.
Aber es gab Nebenwirkungen.
Sogar die Wolkentaucher schwirrten herum, erregt ihre kleinen Mäuler aufreißend – und hungrig.
»Wir hätten doch eine Waffe mitnehmen sollen«, sagte Cummino zu sich selbst – es war mehr ein Flüstern – und versuchte aufzustehen.
Er schaffte es nicht.
Was nun folgte, wollte Vincent nicht mit ansehen. Er machte hastig ein letztes Bild mit seinem Fingerring – die heranrückenden Wölfe, die ausflippenden Wolkentaucher – und stolperte rückwärts, bis er über Leandros Gepäckstück fiel. Der Aufprall ließ ihn kurz aufschreien, ehe er sich hochrappelte, so schnell es nur ging. Er griff sich den Rucksack und rannte den Weg zurück, den sie zu zweit gekommen waren; dabei achtete er darauf, nicht von den Ästen abzurutschen, und vor allem darauf, nirgendwo eine der herabhängenden Lianen anzufassen.
Er war dankbar, dass Cummino weder schrie noch flehte, als die vom Wohlgeruch des Todes angelockten Tiere näher und näher rückten, und dankbar, dass er sich nicht ansehen musste, was als nächstes geschah. Und er hoffte inständig, dass er den Weg aus diesem verfluchten Dickicht hinaus auch allein finden konnte.
5. Sonntagmorgen, am Rand der Siedlung
Pak-46-erg hatte lange und ausgiebig darüber nachgedacht,
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