Violas bewegtes Leben
rumhängen.
»Ich finde, du verurteilst andere viel zu schnell«, sagt Marisol zu mir.
»Mach ich nicht«, erwidere ich betroffen.
»Machst du wohl, Viola. Du hast Mrs. Carleton als modische Vollkatastrophe bezeichnet, nur weil sie eine Hose von Land’s End trägt.«
»Ich habe meine Meinung revidiert, als sie mal Jeans anhatte.«
»Ich weiß. Trotzdem hast du eine Woche lang an allem gezweifelt, was sie im Unterricht sagte, nur weil sie nicht cool genug angezogen war.«
»Du stellst mich hin, als wäre ich furchtbar arrogant.«
»Da muss ich doch gleich an die gelben Lackschuhe denken …«, witzelt Suzanne.
»Die habe ich seit dem ersten Tag nicht mehr getragen«, sage ich abwehrend.
»Jeder macht mal Fehler«, sagt Romy. »Sogar du.«
»Schon gut, schon gut. Ich bin eine blöde Kuh. Ich hab’s kapiert.«
»Nicht in jeder Beziehung. Nur was deine vorschnellen Urteile über andere Menschen angeht«, sagt Marisol sanft.
»Viola ist einfach zu behütet aufgewachsen«, stellt Suzanne nüchtern fest.
»Was soll das heißen?« Ich schreie nun fast, und mein Panikzeiger steht auf orange.
»Oh, keine Panik. Das heißt nur, dass du ein Einzelkind bist und keine Geschwister hast, die dich dazu drängen, bestimmte Dinge zu tun.«
»Okay. Mag sein.« Ich zucke mit den Schultern.
»Also, mit den Jungs ist das so …«, fängt Suzanne an.
Marisol, Romy und ich beugen uns vor, denn in unserem Universum hat Suzanne die Rolle der Großen, Blonden, Schönen, die viel mehr als wir über die Kompliziertheiten romantischer Beziehungen weiß. Wenn es um Jungs geht, ist sie uns allen überlegen, und dafür gibt es zwei Gründe: Erstens hat sie zwei ältere Brüder, die supersexy sind und schon aufs College gehen, und zweitens haben hübsche Mädchen wie Suzanne so viele Verehrer, dass sie sich die Jungs, die sie will, aussuchen kann. Mädchen wie sie müssen niemanden heimlich anbeten, weil sie dafür gar keine Zeit haben. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, die vielen Angebote zu sichten. Ich garantiere euch, dass Suzanne in keinen Jungen aus ganz Chicago so verknallt ist wie ich in Tag Nachmanoff. Sie ist viel zu cool, um ihre Zeit damit zu verschwenden, von etwas zu träumen, das möglicherweise nie in Erfüllung geht. Wenn es also um Jungs, Partys und die Schüler der Schnarchnasen-Academy geht, richten wir uns nach Suzanne. Da ist sie klar im Vorteil.
»Du musst mit diesen Jungs ja nicht ausgehen oder sie jeden Tag sehen. Das ist eine Party . Eine Gelegenheit, was zu unternehmen und neue Leute kennenzulernen, bei denen es sich zufällig um Jungs handelt. Sie sind Menschen wie wir. Außerdem, wenn es um Jungs geht, können wir alle etwas Übung gebrauchen. Wir sind hier auf einem Mädcheninternat und haben nur wenig Gelegenheit dazu. Deshalb sollten wir alle so eine Möglichkeit nutzen. Wir werden uns unterhalten. Wir werden tanzen. Und vielleicht wird eine von uns sogar einen süßen Jungen küssen.«
Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. Jede von uns weißjetzt schon, wer mit einem Kuss von dieser Party zurückkommen wird. Bestimmt nicht Romy und auch nicht Marisol und ganz sicher nicht ich. Aber Suzanne wird alles tun, um uns davon zu überzeugen, dass wir es zumindest versuchen sollten.
Die Party, zu der ich in einer Million Jahre nicht gehen wollte, hat sich soeben in eine Knutschorgie mit irgendwelchen Jungs verwandelt, die wir nicht kennen. Der Druck ist kaum auszuhalten, außer, dass ich wirklich gerne einen Jungen küssen würde, den ich mag – und wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, möchte ich es gerne einigermaßen passabel hinkriegen. Es klingt einleuchtend, dass man dazu Übung braucht oder zumindest gewisse Fähigkeiten entwickeln sollte, damit es überhaupt zu einem Kuss kommt. Hm, in dieser Hinsicht könnte es von Vorteil sein, in Indiana zu sitzen. Ich könnte hier üben und wäre dann, zurück in Brooklyn, der Vollprofi. Aber egal, wie man die Sache sieht, ich befinde mich hier in Gesellschaft eines Mädchens mit enorm viel Wissen und Erfahrung. Suzanne weiß, wovon sie spricht.
»Also …«, fährt Suzanne fort, »ihr seid keineswegs verpflichtet, den nächstbesten Jungen zu küssen, nur um geküsst zu haben. Es ist nicht so, als würde es eine Punktetabelle geben oder so.«
»Wirklich nicht? Wir werden in einen Bus gescheucht und zu einer Jungenschule auf der anderen Seite der Stadt verfrachtet, wo wir alle aussteigen und uns zu einem einsamen Gegenüber auf der Tanzfläche gesellen
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