Violas bewegtes Leben
fliegen.«
»Wovon redet ihr? Marisol kommt doch mit zu mir. Habt ihr meine Mail nicht bekommen, dass ihr herfahren und uns abholen sollt?«
»Das hätten wir auch gerne gemacht, aber es geht leider nicht.«
»Ich kann nicht glauben, dass euch dieses blöde Projekt wichtiger ist als ich«, sage ich zornig.
»So ist es absolut nicht. Wir sind wirklich sehr traurig darüber.Und wir haben mit deiner Schulleiterin, Mrs. Grundman, gesprochen …«
»Ihr habt zuerst mit ihr gesprochen?«
»Wir mussten uns doch mit ihr besprechen«, wirft Dad ein.
»Na großartig. Ihr sprecht einfach hinter meinem Rücken mit ihr, macht Pläne, ohne mich vorher zu fragen?« Tränen brennen in meinen Augen.
»Es ist nicht ganz so schlimm, wie es klingt. Wir haben trotz allem gute Neuigkeiten für dich.« Meine Mutter schaut erst zu meinem Vater und dann in die Kamera zu mir. »Grand kommt nach South Bend und wird mit dir Weihnachten feiern.«
»Und das soll mich dafür entschädigen, dass ihr nicht da seid?«
»Schluss jetzt, Viola. Du liebst deine Großmutter. Du wirst eine tolle Zeit mit ihr haben.« Dads Tonfall ist unerbittlich.
»Sie fängt nach dem ersten Januar mit den Proben für ein neues Stück an. Das wird also für lange Zeit ihr letzter Urlaub sein«, sagt Mom. »Sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen, Schatz. Und Mrs. Grundman hat mir versichert, dass ein wunderschönes Weihnachtsessen geplant ist, und sie hat eines der Gästezimmer in Curley Kerner für Grand reserviert.«
»Ihr habt das alles geplant, ohne nur einmal daran zu denken, mich zu fragen?«
»Wir wussten, wie enttäuscht du sein würdest, und wollten deshalb dafür sorgen, dass du ein möglichst schönes Weihnachten hast, wenn wir schon nicht bei dir sein können.«
Ich denke an zu Hause. Ich denke an meinen allerbesten Freund auf der Welt und dass unsere Freundschaft praktisch am Ende ist, so ruiniert, dass ich ihn vielleicht bald nur noch als »Bekannten« bezeichnen kann. Ich denke an mein Zimmer und an den East River bei Nacht und den Weihnachtsmondüber Brooklyn. Es fühlt sich an, als würde ich nie wieder das sehen, was mir wichtig ist. Ich bin ein Flüchtling, vertrieben aus einem geregelten Familienleben. Ich habe keine Heimat mehr. Ich fühle mich noch mehr im Stich gelassen als damals im September, als ich hierherkam.
»Viola?«, sagt Dad sanft.
Ich warte, ehe ich ihm antworte. Dann wische ich mir mit dem Ärmel über die Augen. »Was?«
»Ich weiß, du kannst das jetzt nicht verstehen, und ich weiß auch, dass es wirklich schwierig für dich ist, aber von den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, was Weihnachten angeht, haben wir diejenige gewählt, die am besten für dich ist.«
»Ja klar.«
»Es bricht uns doch auch das Herz, dass wir nicht bei dir sein können.« Meine Mutter fängt an zu weinen. »Du bist uns das Liebste auf der Welt.«
Na ja, das ist jetzt aber gelogen, oder, Mom? Aber das sage ich nicht laut. Wenn ich wirklich das Liebste auf der Welt für sie wäre, warum können sie dann nicht einfach mal die Arbeit sausen lassen und bei mir sein?
Jared Spencer legt vor dem Curley-Kerner-Bau den Arm um mich. Der Hausmeister, Mr. Jackowski, fegt Schnee von den Bänken. Einige der Lehrer an unserer Schule sind so altersschwach, dass er vielleicht fürchtet, sie könnten in eine Schneewehe fallen und erfrieren und erst an Ostern wieder auftauen, wenn sie sich bei ihren Spaziergängen nirgends hinsetzen und ausruhen können.
Wir schlendern über das Schulgelände. Jared ist bei einem älteren Schüler seiner Schule mitgefahren, der sich mit einerunserer Schülerinnen treffen wollte, und so konnten wir uns vor Weihnachten noch mal sehen. Jared Spencer ist ein guter Planer – weshalb ich ihn nur umso mehr mag und was ihn natürlich auch zu einem gut organisierten Filmemacher macht. Jareds Vater holt ihn heute Abend an der GSA ab, und Jared fährt für zwei Wochen nach Hause.
»Was wirst du in den Ferien machen?«, fragt Jared.
»Marisol ist auch hier, also werde ich viel mit ihr machen. Und meine Großmutter kommt. Und ich muss das Drehbuch für meinen Film schreiben.«
»Ich werde mein Drehbuch auch in den Ferien schreiben«, sagt er. »Obwohl es schon fast fertig ist.«
»Im Ernst? Wann hast du dafür Zeit gefunden?«
»Ich mag Schreiben lieber als alles andere, deshalb habe ich mich immer erst daran gemacht, bevor ich für die Klausuren gelernt habe. Wenn ich meine Noten kriege, gibt es bestimmt
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