Violas bewegtes Leben
Niagara-Fälle. Aber ich verspreche dir, wenn du so alt bist wie ich, also etwa zweiundfünfzig, wirst du an dieses Weihnachtsfest zurückdenken und du wirst sagen: Das war ein wirklich schönes Weihnachten. Unkonventionell, originell und ganz anders als sonst. Vertrau mir. Ich weiß, wie man Feste feiert.«
Marisol wischt sich die Tränen aus den Augen. »Okay, Miss Cerise.«
Außer Grand, Marisol, George und mir nehmen noch ein paar Nonnen und einige Putzfrauen an der morgendlichen Weihnachtsmesse in der Kapelle der Heiligen Jungfrau von Loretto auf dem Campus des Saint Mary’s College teil. Ich hoffe, der Priester kippt nicht um während des Gottesdienstes. Er ist so alt, dass das durchaus möglich wäre. Aber wenigstens ist George in guter körperlicher Verfassung und kräftig genug, um den Priester im schlimmsten Fall aus der Kirche zu tragen.
Die Kapelle ist sehr hübsch, mit einer hohen Decke und Wänden, die mit vielen winzigen Kacheln in verschiedenen Blautönen verziert sind. Die Holzbänke und der Altar in Schokoladenbraun bilden einen hübschen Kontrast dazu.
Es stellt sich heraus, dass George Dvorsky tatsächlich Katholik ist. Und obendrein war er früher anscheinend mal Ministrant, sodass er Gevatter Zeit (der Kerl sieht echt so aus!) dabei helfen kann, die Messe zu halten. George muss verschiedene Sachen auf den Altar stellen und die Glocken läuten. Gelegentlich schaut er von seinen heiligen Pflichten auf und zwinkert Grand zu. Halleluja.
Ich sehe, wie Marisol Trost in ihren Ritualen findet, und muss an unsere Bräuche zu Hause denken: wie meine Eltern mich am Weihnachtsmorgen aus dem Zimmer holen und wir die Treppe hinuntergehen, wo der Baum angezündet steht und überall Geschenke liegen. Mom und Dad kochen und laden Freunde ein, Leute mit Kindern in meinem Alter wie Lily Kamp und ihre Eltern, die Rosenfelds mit Anna, Kate und Jane, die Dyjas mit Nick und Kay und die Prietos mit Emiliound Aaron. Oft kam noch Mary Ehlinger vorbei und las uns laut aus den Gedichten von Edgar Guest vor. Und weil Haustiere auch willkommen waren, sprangen immer ein paar Hunde herum: Elvis und Click. Wir Kinder spielten zusammen, während unsere Eltern am Tisch saßen und redeten und lachten.
Das Reden und das Lachen – das vermisse ich am meisten. Und wie meine Eltern riefen, um die ganze Rasselbande zum Essen zu holen. Grand kam immer erst später, weil sie lange schläft (alle Schauspielerinnen tun das – ruft niemals vormittags bei einer an, sonst werdet ihr erschossen), und brachte gewöhnlich ihren gerade aktuellen Freund mit. Deshalb ist dieses Weihnachten in Bezug auf meine Großmutter eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. George Dvorsky hätte gut in unser rotes Backsteinhaus gepasst. Mom und ihre Freundinnen hätten Wein getrunken in der Küche und voller Bewunderung darüber geredet, wie jung George ist und was eine unglaubliche Frau Grand sein muss, um so fesche Kerle anzuziehen.
Als es Zeit wird, aus einem Buch vorzulesen, das von hier hinten sehr nach einer Bibel aussieht, winkt der alte Priester meine Großmutter zu sich, die sich theatralisch die Hand auf die Brust legt und Ich? haucht. Ich flüstere: »Ja, du«, weilGevatter Zeit sicher keine der Nonnen gemeint hat, die den Kopf gebeugt haben wie zum Gebet. In Wirklichkeit schlafen sie alle.
Grand steht auf, verlässt ihre Bank und schreitet zum Podium. Sie zieht ihre schicke Lesebrille aus der Tasche ihres engen Wollrocks und fängt an zu lesen: »Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …« Und dann passiert etwas total Merkwürdiges: Grand fängt an zu weinen. George erhebt sich von der schmalen Bank neben Gevatter Zeit und stellt sich neben sie. Er liest laut weiter, wo sie aufgehört hat, und als sie sich wieder gefangen hat, übernimmt sie wieder und erzählt den Rest der Geschichte, die ja jeder kennt, von dem armen Mädchen, jung und schwanger, und ihrem Mann Joseph und den überfüllten Herbergen, die sie nicht aufnehmen können.
Am Ende des Gottesdienstes lässt Gevatter Zeit uns alle »Joy to the World« singen, und Marisol und ich schmettern richtig laut mit, als Ausgleich für die dünnen Stimmchen der tauben Nonnen. Grand und George halten Händchen, als wir gehen. Ich bin überrascht, eine so spirituelle Erfahrung gemacht zu haben. Zumal ich gar nicht danach gesucht hatte.
Marisol und ich räumen das Geschirr vom Esstisch in die Küche. Grand hat eine Pute mit leckerer Füllung
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