Violas bewegtes Leben
gemacht, und dazu Süßkartoffeln und grüne Bohnen. Wir haben die ganze internationale Mädchentruppe, unseren Völkerbund, dazu eingeladen: zwei Afrikanerinnen, drei Mitteleuropäerinnen und eine Kanadierin, die alle in den Ferien nicht nach Hause fahren konnten. Grand und George haben kleine Szenen aus Arsen und Spitzenhäubchen vorgespielt, die sehr lustig waren, sozusagen eine Probe für die Zeit nach Weihnachten, wenn sie auf die echten »Bretter« zurückkehren. Die anderen sind zurück in den Curley-Kerner-Bau gegangen, um Filme anzuschauen, während wir noch mit Grand und George zusammensitzen.
»Ich bin Experte im Abwaschen«, sagt George. »Marisol, hast du Lust, mir zu helfen?«
»Gerne«, sagt sie.
»Wir kommen gleich und helfen euch«, ruft Grand ihm nach.Dann dreht sie sich zu mir und fragt: »Hast du heute schon mit deinen Eltern gesprochen?«
»Wir haben geskypt. Mom hat die ganze Zeit über geweint.«
»Du liebe Güte, im Gegensatz zu mir fehlt es ihr einfach an Selbstbeherrschung«, klagt Grand. »Das war schon immer so. Zum Glück ist sie nicht zum Theater gegangen.«
»Mir hat es gefallen, dass sie mich vermisst. Aber daran hätte sie vorher denken sollen, bevor sie sich entschieden hat, nicht nach Hause zu kommen. Meine Eltern sind wirklich die größten Egoisten auf diesem Planeten.«
»Viola …«, sagt Grand mit warnender Stimme.
»Wieso? Stimmt doch. Sie haben mich einfach hierher abgeschoben.«
»Dich abgeschoben? Junge Dame, das geht eindeutig zu weit.« Diesmal spricht Grand nicht mit ihrer Schauspielerstimme. Das hier ist echt. Sie ist sauer auf mich. »Du beschuldigst deine Mutter, absichtlich eine Gelegenheit verpasst zu haben, bei dir zu sein, und das stimmt einfach nicht.«
»Ich bin ein Einzelkind. Hier gibt es Mädchen, die ungefähr zehn Geschwister haben, und trotzdem schaffen es ihre Eltern irgendwie, sie an Weihnachten nach Hause zu holen. Meine Eltern sind nicht gekommen. Sie haben es nicht mal geschafft, sich wenigstens für drei Tage oder so freizuschaufeln, um mich zu sehen.«
»Viola, dafür gibt es gute Gründe.«
»Na, die würde ich aber gerne mal hören.« Ich kenne meine Eltern. Sie sind Künstler. Sie versinken so in ihrer Arbeit, dass sie Telefon, Türglocke und sogar den Feueralarm überhören. Mein ganzes Leben lang war ich immer diejenige, die sie aus ihrem kreativen Nebel herausgezerrt hat. Grand weiß das.Und auch wenn das jetzt verbittert klingt, ich finde es falsch, wenn Eltern ihre Kinder an Feiertagen alleine lassen. Das schädigt einen fürs Leben – ob die Eltern nun gute Gründe dafür haben oder nicht. Marisols Eltern haben sie wenigstens deshalb sitzen lassen, weil es um Leben und Tod ging. Bei meinen Eltern war es nur wegen der Arbeit. »Ihre Projekte sind ihnen wichtiger als ich.«
»Das ist nicht wahr. Deine Eltern konnten es sich aus finanziellen Gründen nicht leisten, nach Hause zu fliegen.«
In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Mein ganzes Leben lang haben meine Eltern mir nie den Eindruck vermittelt, wir hätten kein Geld. Es war zwar nie besonders viel da, aber es war auch nicht zu wenig. Ja, sie sind genügsam, aber das liegt daran, dass sie ihr ganzes Geld in die Finanzierung ihrer Filme stecken. Sie haben ein Stockwerk unseres renovierungsbedürftigen Backsteinhauses an einen Musikprofessor vermietet, und manchmal nehmen sie Aufträge an, die sie lieber unter falschem Namen abliefern (zum Beispiel so eine endlos lange Fernsehserie, die in New York gedreht und nach ungefähr zwei Folgen wieder abgesetzt wurde). Ich weiß, dass wir nicht reich sind; wir fahren nie in den Urlaub (meistens, weil sie so viel reisen – da käme es einem fast albern vor, irgendwo weit weg von zu Hause in Urlaub zu fahren, um sich auszuruhen), aber Geld war nie ein Thema. Die Filmemacher und Künstler, die meine Eltern kennen, sind auch nicht reich, aber ich hätte sie niemals im Leben als arm bezeichnet. »Grand, wovon sprichst du?«
»Ich spreche von einer Pechsträhne mit finanziellen Rückschlägen und ausbleibenden Aufträgen.«
»Dad und Mom haben doch ihre eigenen Projekte entwickelt.«
»Weil sie keine bezahlten Aufträge mehr hatten.«
»Warum haben sie mir das nie erzählt?«
»Sie wollten dich nicht beunruhigen. Und Viola, ich habe dir das nicht erzählt, damit du dir Sorgen machst. Du bist klug und du bist erwachsen und du kannst damit umgehen, die Wahrheit zu wissen. Ich habe es dir erzählt, damit du die Dinge mit ihren
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