VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit
zu, wie er da auf dem Platz des Bootsführers saß und seine langen schwarzen Haare in der Brise tanzen ließ. Er trug sein übliches schwarzes T-Shirt und abgeschnittene Khakishorts. Sein finsterer Blick war undurchdringlich. Mit seinen dunklen Augen, dem kupferfarbenen Teint und seinem muskulösen Körper strahlte er die verhaltene Geschmeidigkeit einer Wildkatze aus.
Ich dachte daran, dass er wirklich ein attraktiver Typ war, selbst wenn er vor sich hin grübelte.
Erst recht, wenn er grübelte.
» Da ist der Depp.« Bens Stimme brachte mich augenblicklich in die Realität zurück.
Jason Taylor stand auf dem Anleger. Groß gewachsen und athletisch, mit hellblonden Haaren und himmelblauen Augen. Ein echter Wikinger. Reines Skandinavien.
Jason war der Lacrosse-Star der Bolton Prep und steinreich– seine Familie besaß ein nobles Anwesen in Mount Pleasant. Er hätte ein arroganter Snob sein können, doch seine offene, aufrichtige Art machte ihn zu einem der beliebtesten Schüler überhaupt.
Also ziemlich das genaue Gegenteil von mir.
Seit wir letztes Semester ein gemeinsames Projekt in Bio hatten, hat Jason ein unerklärliches Interesse an mir entwickelt. Ich fühlte mich geschmeichelt, war aber auch erstaunt und nicht ganz sicher, ob mir sein Interesse gefiel. Versteht mich nicht falsch, Jason ist klasse. Er hat für uns Partei ergriffen, wenn ich oder die anderen Virals gemobbt wurden. Doch in meine Träume hat er sich noch nicht geschlichen.
Vielleicht sollte ich mich an Jason heranmachen. Mich mit ihm verabreden. Das würde die sechsbeinige Tussi auf Distanz halten. Oder wer weiß, vielleicht wäre sie dann ständig um mich herum. Schönen Dank auch.
» Hübsche Krawatte«, bemerkte Ben. » Der Typ sieht aus wie ein Handyverkäufer.«
An einer Sache ist nicht zu rütteln: Jason und Ben kommen überhaupt nicht miteinander klar. Ich weiß nicht, warum, aber die beiden sind wie Feuer und Wasser. Und jedes Mal, wenn ich es zur Sprache bringen will, wechselt Ben sofort das Thema.
Jungs!
War Ben etwa auf Jason eifersüchtig?
Der Unterschied zwischen den beiden könnte nicht größer sein. Buchstäblich wie Tag und Nacht.
Wer wäre dir lieber?
Was für eine komische Frage. Wo kam die denn auf einmal her?
» Tory!« Jason schlenderte uns entgegen. » Ah, und Ben…« Verhaltenes Lächeln. » Immer schön, euch zu sehen.«
» Gleichfalls.« Ben zielte mit der Leine auf Jasons Kopf. » Mach dich mal nützlich.«
» Klar.« Jason duckte sich, fing die Leine aber lässig auf. » Warum festmachen? Du bleibst doch sowieso nicht.«
Bens Gesicht verfinsterte sich. So weit ging Jason normalerweise nicht.
Die Leine in der einen Hand haltend, bot er mir seine andere an. Als ich den Anleger betrat, warf er die Leine in die Sewee zurück.
» Adios.« Jason hatte Ben schon den Rücken zugekehrt. » Gute Fahrt.«
Wortlos legte Ben den Rückwärtsgang ein und tuckerte davon.
» Danke, Ben!«, rief ich ihm nach. » Bis dann!«
Jason nahm mich am Arm. » Wollen wir?«
Ich bewegte mich nicht vom Fleck. » Könntet ihr beide nicht versuchen, etwas freundlicher zueinander zu sein? Das wird doch langsam lächerlich.«
» Oh, tut mir leid.« Jason verzog das Gesicht. Offenbar war es ihm peinlich, dass er seine gute Kinderstube vergessen hatte. » Aber du hast doch gesehen, wie er mir die Leine an den Kopf werfen wollte. Und das bei der Affenhitze. Komm, lass uns reingehen. Das Büfett hat gerade eröffnet.«
» Du und das Essen.« Ich erlaubte ihm, mich mit sich zu führen. » Ist das der einzige Grund, warum du zu diesen Partys gehst? Wegen des Büfetts?«
» Na ja, nicht nur.« Er lächelte verlegen. » Komm jetzt.«
***
Der Palmetto Yachtclub liegt versteckt an der östlichen Spitze der Halbinsel, dort, wo die East Bay Street, die aus Charlestons Zentrum herausführt, in den Bereich übergeht, der Battery genannt wird. Vier großzügige Landungsbrücken erstrecken sich ins Wasser und beherbergen eine ganze Flotte von Luxusyachten. Das majestätische dreistöckige Hauptgebäude des Clubs hat die Form eines Hufeisens und besteht aus historischem Backstein sowie modernem Stuck. Seine Flügel umfassen eine perfekt getrimmte Rasenfläche, von der aus man einen spektakulären Blick über den Hafen genießt.
Die heutige Benefizveranstaltung war ein Outdoor-Event. Ehrwürdige Magnolien sowie die leichte Meeresbrise sorgten dafür, dass hier draußen trotz der drückenden Augusthitze erträgliche Temperaturen
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