VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit
» Bonnys Schatzkarte ist allgemein bekannt. Ein cleverer Fälscher hat das Kreuz vielleicht nachgemacht, um Leute wie uns hinters Licht zu führen.«
» Stimmt«, sagte ich. » Wir sollten unsere wissenschaftliche Objektivität wahren.« Shelton machte Hi bereitwillig Platz, der nach einhelliger Meinung die geschicktesten Hände hatte.
» Wer ist mein Assistent?« Hi hob die Unterarme und spreizte die Finger.
Ben reichte ihm eine Packung mit Latexhandschuhen. Derart ausgestattet, widmete sich Hi der ersten Schriftrolle.
» Das ist die erste Seite eines Briefs«, erklärte er.
Ich warf einen Blick auf die ersten Zeilen. » Der ist an Anne Bonny adressiert. Schau mal, wer ihn geschrieben hat.«
Hi prüfte die nächste Seite. Ich bemerkte, dass auf beiden Seiten das seltsame Kreuz abgebildet war.
Der Brief schloss mit zwei schwungvollen Initialen.
» Wer mag M. R. sein?«, fragte Shelton.
» Mary Read!« Ich konnte es kaum glauben. » Das ist ein Brief von Mary Read an Anne Bonny!«
» I kissed a girl, and I liked it!«, sang Hi.
Shelton lachte in sich hinein. » Es gibt keinen Beweis, dass die wirklich was miteinander hatten.«
Doch selbst ich musste lachen. Wie auch immer. Wenn die Dokumente echt waren, hatten wir den Jackpot geknackt. Dieser Brief allein konnte mehrere tausend Dollar wert sein.
Behutsam blätterte Hi durch die übrigen Seiten.
» Drei Briefe«, sagte er. » Zwei von Read an Bonny und einer von Bonny an Read. Alle zu Beginn des Jahres 1721 geschrieben.«
» Wie ist Bates denn an einen kompletten Briefwechsel rangekommen?«, fragte Ben. Niemand wusste darauf eine Antwort.
» Wann wurde die Revenge gekapert?«, fragte ich.
» Calico Jack wurde 1720 gehängt«, antwortete Shelton. Diese Briefe wurden also nachher geschrieben.«
» Während sie im Gefängnis saßen«, ergänzte ich. » Aber warum haben sie sich Briefe geschrieben? Waren sie denn nicht im selben Gefängnis?«
» Wenn wir sie lesen, kennen wir vielleicht die Antwort«, sagte Hi.
Guter Hinweis.
Also zurück zu Seite 1. Schweigend studierten wir das Dokument.
Die Sprache war altmodisch, die Schrift verblasst und kaum zu entziffern. Immerhin Englisch. Nach und nach gelang es uns, dem seltsamen Text einen Sinn zu entnehmen.
» Da!« Mein Finger tippte auf eine bestimmte Stelle. » Mary schreibt, sie sei ›zu Tode betrübt‹, nachdem Anne ›so weit fortgegangen‹ sei.«
» Fortgegangen?« Shelton zog sich am Ohrläppchen. » Wo soll sie denn hingegangen sein?«
» Pst!«, zischte Ben. » Es lesen nicht alle so schnell wie ihr.«
Wir warteten.
» Nächste Seite.« Ben warf mir einen Blick zu. » Und wartet, bis ich fertig bin.«
Hi blätterte um. Meine gierigen Augen liefen in rasender Eile über den alten Text.
Wow!
Ungeduldig verschränkte ich meine Finger und wartete.
» Heiliger Bimbam!« Hi.
» Mein Gott!« Shelton.
Ben schaute auf. Seine Brauen befanden sich hoch oben auf seiner Stirn.
» Glückwunsch, Jungs!«, sagte ich kurzatmig. » Wir haben gerade herausgefunden, was wirklich mit Anne Bonny passiert ist. Die Wahrheit.«
Hi las laut. » Gott sei Dank hat dein gütiger Vater dich nach Hause geholt.«
» Gütiger Vater?«, fragte Ben. » Gott? Ist sie gestorben?«
» Nein, nein, ihr leiblicher Vater. William Cormac! Er hat sie freigekauft!« Shelton klatschte in die Hände. » Anne ist nach Charles Town zurückgekehrt.«
» Bist du sicher?« Ben schien nicht überzeugt zu sein.
» Aber ja.« Meine Lippen öffneten sich zu einem einfältigen Grinsen. » Sie wurde nicht gehängt.«
» Brief zwei!«, verkündete Hi mit einem Tusch.
Wir steckten erneut die Köpfe zusammen.
» Dieser Brief ist von Anne an Mary«, sagte Hi. » Einen Monat später, Februar 1721.«
» Nicht tot«, bemerkte Shelton. Ben zuckte zustimmend die Schultern.
Die Handschrift war charaktervoller, die Ausdrucksweise verriet eine höhere Bildung. Der Brief umfasste zwei Seiten, wobei das zweite Blatt zur Hälfte mit einer riesigen Unterschrift bedeckt war.
Anne Bonny. Glasklar zu erkennen.
Und noch besser: Anne hatte auf beide Blätter in einer Ecke das abgewinkelte Kreuz gezeichnet. » Das Symbol muss eine ganz bestimmte Bedeutung haben«, sagte Hi.
» Eine Verzierung«, mutmaßte Shelton. » Handgemachtes Edelbriefpapier.«
» Ich glaube eher an was Konkretes«, sagte ich. » Eine persönliche Signatur.«
» Ein Wasserzeichen«, stellte Ben unumstößlich fest.
Ich schaute ihn fragend an.
» Das ist ein
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