VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit
Schnauben von sich. » Natürlich hilft der uns gern. Das war der mieseste Deal aller Zeiten.«
Hi zuckte die Schultern. » Das war die einzige Möglichkeit, um an die Sachen ranzukommen. Er sitzt eben am längeren Hebel.«
» Lass uns einen Wagen nach dem anderen durchgehen«, schlug ich vor. » Dann übersehen wir nichts.«
Dem ersten Wagen widmeten wir nur ein oberflächliches Interesse. Was interessierte uns schon die Familie Cormac nach Anne Bonnys Tod?
Im mittleren Wagen, unter den privaten Dokumenten William Cormacs, fanden wir hauptsächlich Grundbesitzunterlagen oder Berichte über die Produktivität seiner Plantage. Allmählich begann ich zu zweifeln, ob wir überhaupt etwas finden würden, das uns von Nutzen war.
» Hier«, sagte Shelton und trug mehrere Blätter zum Tisch, » schaut euch das mal an.«
Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihm. » Was ist das?«
» Ein Brief an Cormac vom Vater seiner Frau.«
» Seiner Frau?«, fragte Hi. » Du meinst Annes Mutter?«
» Nein, seine richtige Frau. Die er in Irland betrogen hat.«
» Autsch!« Hi beugte sich über Sheltons Schulter. » Und, was schreibt ihr Vater? Wollte er sich mit ihm duellieren?«
» Die Sprache ist ziemlich altertümlich«, antwortete Shelton, » aber nicht gerade sehr höflich. Er wirft Cormac ›Lüsternheit‹ und ›Unzucht‹ vor. Nennt ihn einen ›dickbäuchigen, blödäugigen Speichellecker‹.«
Hi grinste. » Warum sollte man einen Brief aufheben, in dem man so beschimpft wird? Cormac muss ein Masochist gewesen sein.«
Shelton hatte das Ende des Briefs erreicht. » Und wie gefällt euch das hier?«
» Was?«, fragte ich.
» Wir wissen, dass Annes Vater William Cormac hieß«, fuhr er fort. » Und als sie geheiratet hat, nahm Anne den Namen ihres langweiligen Ehemanns, James Bonny, an.«
» Und?«
» Jetzt ratet mal, wie der Name ihrer Mutter war! Der Dienstmagd, mit der ihr Vater durchgebrannt ist.«
Shelton zögerte die Antwort genüsslich hinaus.
» Jetzt sag schon«, drängte Hi. » Du erwartest ja wohl nicht von uns, dass wir den Namen erraten, oder?«
» Ihr werdet staunen!«, verkündete Shelton mit lang gezogener Stimme.
» Spuck’s aus!«, sagte ich. Meine Geduld war langsam am Ende.
» Der Name von Annes Mutter ist…«, Shelton machte einen Trommelwirbel auf dem Tisch, » Mary Brennan!«
Ich kniff die Augen zusammen. » Ist das dein Ernst?«
» Schau selbst.« Shelton gab mir das Blatt. » Daddy ist stinkwütend, weil Mary Brennan die persönliche Dienstmagd seiner Tochter war. Zwei Mal erwähnt er sie bei ihrem vollen Namen.«
» Shelton hat recht.« Ben legte ein weiteres Blatt auf den Tisch. » Aus diesem Dokument von 1697 geht hervor, dass eine Dienstmagd namens Mary Brennan in der irischen Grafschaft Cork ein Mädchen zur Welt brachte, das auf den Namen Anne getauft wurde.«
» Was sagt man dazu!«, scherzte Hi. » Anne Bonny könnte deine Urururururgroßmutter sein oder so was. Wahrscheinlich bist du deshalb so ein liebreizendes Geschöpf geworden.«
» Sehr lustig.«
Doch ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Das Gemälde im Yachtclub. Die ähnliche Handschrift. Und jetzt das! War das wirklich möglich? Konnte ich die Nachfahrin von Anne Bonny sein?
Blödsinn!
» In Nordamerika gibt es bestimmt Tausende von Brennans«, sagte ich.
» Und wie viele in Massachusetts?« Hi blätterte durch die letzten Unterlagen in der Box mit den Cormac-Sachen. » Hier ist ein Brief, den Mary Brennan selbst geschrieben hat. Von 1707. Er wurde nie abgeschickt, war aber an eine Kusine in ›Massachusetts Bay Colony‹ adressiert.«
Nächster Kälteschauer. Die Sache wurde mir allmählich unheimlich.
» Das war’s in Sachen William Cormac.« Hi legte den Brief in den Behälter zurück.
» Begrüßen Sie Anne Bonny!« Shelton war zum dritten Wagen gegangen und übergab Ben einen kleinen Stapel muffig riechender Dokumente. » Viel Spaß damit!«
» Nicht viel zu erkennen.« Ben legte die Unterlagen auf den Tisch. » Die sollten wir uns schön der Reihe nach ansehen.«
» Tory?« Shelton studierte die Seite der letzten Dokumentenbox. » Du hältst doch nichts von voreiligen Schlussfolgerungen, oder?«
» Nein«, sagte ich. » Derselbe Nachname beweist noch lange nicht…«
» Das meine ich auch gar nicht. Rate mal, wer die letzte Person war, die sich diese Unterlagen angesehen hat.«
» Ach komm, es reicht langsam mit den Ratespielen«, sagte Ben stöhnend.
» Sieh dir die Unterschrift an.«
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