Virgil Flowers 03 - Bittere Suehne
Virgil.
»Wenn Sie mich gefragt hätten, wie Sie von der Straße aus zum Teich kommen, hätte ich mir das auf der Karte ansehen und unter Umständen sogar einen Kompass zu Rate ziehen müssen, und ich bin von hier«, erklärte Sanders. »Der Mörder kennt diese Gegend entweder deutlich besser als ich, oder er hat sich alles über Google Earth oder auf einer Karte angesehen, vielleicht auch ein GPS verwendet. Und dann hat er das Gebiet ausgekundschaftet. Also kann’s genauso gut jemand von außen wie ein Ortsansässiger gewesen sein.«
»Oder die Person ist ein Rotwildjäger«, meldete sich Rainy zu Wort. Virgil und der Sheriff wandten sich ihm zu. »Bei Frost ist es da drin gar nicht so übel. Keine Mücken, kein Matsch. Ein paar hundert Meter weiter hinten können Sie den Teich sehen. John Mack hat ungefähr fünf Minuten in westlicher Richtung zwei Hochstände. Treiber aus der Gegend arbeiten sich durch dieses Waldstück, von der Straße bis rüber zum See und rauf zu Mack.«
»Sind wahrscheinlich ziemlich viele Leute für die Treibjagd nötig«, sagte Virgil.
»Ne, nicht so schlimm. Im Winter ist die Sicht besser. Sechs, acht Männer treiben das Rotwild zwischen zwei kleinen Weihern durch«, erklärte Rainy. »Die Jungs auf den Hochständen erlegen normalerweise ein oder zwei Tiere. Die Männer lassen ihre Kids da rauf, damit sie eine Chance auf einen guten Schuss haben.«
»Aha«, sagte Virgil. »Danke für die Information.«
Als sie die Bibliothek verließen, beugte der Sheriff sich zu Rainy hinüber. »An Ihrer Stelle würde ich vorsichtig sein mit diesen Lesbengerüchten, wenn Sie weiter hier arbeiten wollen.«
Rainys Adamsapfel bewegte sich auf und ab. »Okay.«
Draußen sagte Sanders zu Virgil: »Ich möchte nicht, dass Sie den Eindruck bekommen, die Leute hier wären homosexuellenfeindlich. Einige der Frauen in der Lodge mögen lesbisch sein, aber das stört niemanden. Wir wollen schließlich, dass sie zu uns kommen, shoppen, die Lokale besuchen – diese Frauen haben Geld. Der Aufenthalt im Eagle Nest kostet sie zweitausend Dollar die Woche, und manche bleiben einen ganzen Monat. Die kaufen nicht bloß einen Eimer Elritzen und schlafen auf der Ladefläche von ihrem Truck.«
Virgil lächelte. »Wie Johnson und ich?«
»Na ja … Sie treffen sich im Wild Goose, wie George gesagt hat. Tom Mortensen, dem gehört die Kneipe, würde einen Herzinfarkt kriegen bei der Aussicht, seine lesbischen Gäste zu verlieren. Die sorgen für gutes Geschäft. Er mag sie, und sie sind gern bei ihm. Sie machen weit weniger Probleme als ein Rudel Cowboys.«
Sie gingen zu Margery Stanhope. Zoe, die Frau, die Virgil auf die Schießerei in International Falls angesprochen hatte, saß mit einer schwarzen Bibliothekarinnenbrille am Computer. Virgil hatte eine Schwäche für Frauen mit strenger Brille. Dazu noch ein Überbiss, und er hätte ihr vermutlich auf der Stelle einen Heiratsantrag gemacht.
Stanhope, die mit einem Blatt Papier hinter ihr stand, sagte gerade: »Ich bin mir sicher, dass wir ihn vor dem ersten Juli ausgezahlt haben. Der vierte Juli ist auf einen Freitag, also den Zahltag, gefallen. Ich erinnere mich ganz genau, dass er nicht zum Feuerwerk da war, denn normalerweise hilft er, es aufzubauen …«
»Aber du verstehst das Problem, oder?«, fragte Zoe und tippte auf den Monitor. »Wenn er in den Juli rübergerutscht ist, müssen wir ihn durchs dritte Quartal mitziehen.«
Da bemerkte Stanhope Virgil und Sanders und wandte sich ihnen zu. »Hallo. Wir versuchen, ein Buchhaltungsproblem zu lösen.«
»Könnten Sie ein paar Minuten für mich erübrigen?«, wollte Virgil wissen. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich zu Miss McDills Hütte begleiten und mir einige Fragen über sie beantworten.«
»Erledigen wir das gleich«, schlug Stanhope vor.
»Dann überlasse ich Sie mal Ihrem Schicksal, Virgil«, erklärte der Sheriff. »Ich muss mit den Leuten vom Fernsehen reden.«
Virgil nickte. »Gehen Sie ruhig. Aber vergessen Sie nicht, dass ich später noch zur Avis-Agentur muss.«
»Mein Büro ist in der Stadt«, mischte sich Zoe ein. »Ich kann Sie mitnehmen. In ungefähr einer halben Stunde.«
»Super«, sagte Virgil.
Alle Hütten trugen Namen. Erica McDill war im Seetaucher, dem Common Loon, untergebracht gewesen. Die Hütte hatte ein Schlafzimmer sowie einen weiteren Schlafplatz im ersten Stock, der über eine Leiter zu erreichen war. Auch von dort führte eine Tür hinaus aufs
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